Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

und Entwickelung des Menschen.
gleich Ausnahmen vorkommen. Diese und dergleichen
Bemerkungen mehr, nebst ihren Abweichungen und
Verschiedenheiten in den verschiedenen Menschenarten,
gehören zu der Naturgeschichte des Menschen, die ich
hier übergehe. Aber was die Art und Weise des Ab-
nehmens an Seelenkräften betrift, und welchen Begriff
man aus der Erfahrung sich davon zu machen habe?
ob es in einem Verlust bestehe, oder in einer Wieder-
einwickelung?
worinnen es bestehe, insofern es in
dem Organ der Seele vor sich geht? und was es in
der Seele selbst
sey? dieß sind Hauptstücke in der
Philosophie über den Menschen, worüber ich wünschte,
einiges Licht verbreiten zu können.

2.

Die Abnahme der Seelenkräfte ist eben so wenig
eine Wiedereinwickelung der Vermögen, als die
Ahnahme des Körpers so etwas ist, wenn man sich eine
Rückkehr in den ehemaligen Zustand der Jugend dar-
unter vorstellet, das ist, in den Zustand, worinn die
Seele vor der Entwickelung ihrer Vermögen war, da
sie nur die Principe und Anlagen zu den nachherigen
Vermögen besaß. Sonsten kann sie anderer Beschaf-
fenheiten wegen, von gewissen Seiten betrachtet, wohl
eine Einwickelung genennet werden. Man sehe nur
zuerst auf das, was in dem Körper geschieht, wenn der
Mensch alt wird. Es folgt keine Verjüngerung. Die
entwickelte Form behält, den wesentlichen Stücken nach,
ihre einmal erlangte Größe, ihren Umfang und ihre
Masse, und die Theile bleiben unter sich in derselbigen
Lage und Ordnung, behalten dieselbigen Verhältnisse auf-
einander, wie sie solche angenommen haben. Die we-
nigen Veränderungen in der Länge und Größe, die Ver-
kürzungen der Fasern, ihre Verdünnung, und was man
mehr noch unter dem Einkriechen des Alters begreift und

eine
Z z 4

und Entwickelung des Menſchen.
gleich Ausnahmen vorkommen. Dieſe und dergleichen
Bemerkungen mehr, nebſt ihren Abweichungen und
Verſchiedenheiten in den verſchiedenen Menſchenarten,
gehoͤren zu der Naturgeſchichte des Menſchen, die ich
hier uͤbergehe. Aber was die Art und Weiſe des Ab-
nehmens an Seelenkraͤften betrift, und welchen Begriff
man aus der Erfahrung ſich davon zu machen habe?
ob es in einem Verluſt beſtehe, oder in einer Wieder-
einwickelung?
worinnen es beſtehe, inſofern es in
dem Organ der Seele vor ſich geht? und was es in
der Seele ſelbſt
ſey? dieß ſind Hauptſtuͤcke in der
Philoſophie uͤber den Menſchen, woruͤber ich wuͤnſchte,
einiges Licht verbreiten zu koͤnnen.

2.

Die Abnahme der Seelenkraͤfte iſt eben ſo wenig
eine Wiedereinwickelung der Vermoͤgen, als die
Ahnahme des Koͤrpers ſo etwas iſt, wenn man ſich eine
Ruͤckkehr in den ehemaligen Zuſtand der Jugend dar-
unter vorſtellet, das iſt, in den Zuſtand, worinn die
Seele vor der Entwickelung ihrer Vermoͤgen war, da
ſie nur die Principe und Anlagen zu den nachherigen
Vermoͤgen beſaß. Sonſten kann ſie anderer Beſchaf-
fenheiten wegen, von gewiſſen Seiten betrachtet, wohl
eine Einwickelung genennet werden. Man ſehe nur
zuerſt auf das, was in dem Koͤrper geſchieht, wenn der
Menſch alt wird. Es folgt keine Verjuͤngerung. Die
entwickelte Form behaͤlt, den weſentlichen Stuͤcken nach,
ihre einmal erlangte Groͤße, ihren Umfang und ihre
Maſſe, und die Theile bleiben unter ſich in derſelbigen
Lage und Ordnung, behalten dieſelbigen Verhaͤltniſſe auf-
einander, wie ſie ſolche angenommen haben. Die we-
nigen Veraͤnderungen in der Laͤnge und Groͤße, die Ver-
kuͤrzungen der Faſern, ihre Verduͤnnung, und was man
mehr noch unter dem Einkriechen des Alters begreift und

eine
Z z 4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0757" n="727"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">und Entwickelung des Men&#x017F;chen.</hi></fw><lb/>
gleich Ausnahmen vorkommen. Die&#x017F;e und dergleichen<lb/>
Bemerkungen mehr, neb&#x017F;t ihren Abweichungen und<lb/>
Ver&#x017F;chiedenheiten in den ver&#x017F;chiedenen Men&#x017F;chenarten,<lb/>
geho&#x0364;ren zu der Naturge&#x017F;chichte des Men&#x017F;chen, die ich<lb/>
hier u&#x0364;bergehe. Aber was die Art und Wei&#x017F;e des Ab-<lb/>
nehmens an Seelenkra&#x0364;ften betrift, und welchen Begriff<lb/>
man aus der Erfahrung &#x017F;ich davon zu machen habe?<lb/>
ob es in einem Verlu&#x017F;t be&#x017F;tehe, oder in einer <hi rendition="#fr">Wieder-<lb/>
einwickelung?</hi> worinnen es be&#x017F;tehe, in&#x017F;ofern es in<lb/>
dem <hi rendition="#fr">Organ</hi> der Seele vor &#x017F;ich geht? und was es <hi rendition="#fr">in<lb/>
der Seele &#x017F;elb&#x017F;t</hi> &#x017F;ey? dieß &#x017F;ind Haupt&#x017F;tu&#x0364;cke in der<lb/>
Philo&#x017F;ophie u&#x0364;ber den Men&#x017F;chen, woru&#x0364;ber ich wu&#x0364;n&#x017F;chte,<lb/>
einiges Licht verbreiten zu ko&#x0364;nnen.</p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head>2.</head><lb/>
              <p>Die Abnahme der Seelenkra&#x0364;fte i&#x017F;t eben &#x017F;o wenig<lb/>
eine <hi rendition="#fr">Wiedereinwickelung</hi> der Vermo&#x0364;gen, als die<lb/>
Ahnahme des Ko&#x0364;rpers &#x017F;o etwas i&#x017F;t, wenn man &#x017F;ich eine<lb/>
Ru&#x0364;ckkehr in den ehemaligen Zu&#x017F;tand der Jugend dar-<lb/>
unter vor&#x017F;tellet, das i&#x017F;t, in den Zu&#x017F;tand, worinn die<lb/>
Seele vor der Entwickelung ihrer Vermo&#x0364;gen war, da<lb/>
&#x017F;ie nur die Principe und Anlagen zu den nachherigen<lb/>
Vermo&#x0364;gen be&#x017F;aß. Son&#x017F;ten kann &#x017F;ie anderer Be&#x017F;chaf-<lb/>
fenheiten wegen, von gewi&#x017F;&#x017F;en Seiten betrachtet, wohl<lb/>
eine <hi rendition="#fr">Einwickelung</hi> genennet werden. Man &#x017F;ehe nur<lb/>
zuer&#x017F;t auf das, was in dem Ko&#x0364;rper ge&#x017F;chieht, wenn der<lb/>
Men&#x017F;ch alt wird. Es folgt keine Verju&#x0364;ngerung. Die<lb/>
entwickelte Form beha&#x0364;lt, den we&#x017F;entlichen Stu&#x0364;cken nach,<lb/>
ihre einmal erlangte Gro&#x0364;ße, ihren Umfang und ihre<lb/>
Ma&#x017F;&#x017F;e, und die Theile bleiben unter &#x017F;ich in der&#x017F;elbigen<lb/>
Lage und Ordnung, behalten die&#x017F;elbigen Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e auf-<lb/>
einander, wie &#x017F;ie &#x017F;olche angenommen haben. Die we-<lb/>
nigen Vera&#x0364;nderungen in der La&#x0364;nge und Gro&#x0364;ße, die Ver-<lb/>
ku&#x0364;rzungen der Fa&#x017F;ern, ihre Verdu&#x0364;nnung, und was man<lb/>
mehr noch unter dem Einkriechen des Alters begreift und<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">Z z 4</fw><fw place="bottom" type="catch">eine</fw><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[727/0757] und Entwickelung des Menſchen. gleich Ausnahmen vorkommen. Dieſe und dergleichen Bemerkungen mehr, nebſt ihren Abweichungen und Verſchiedenheiten in den verſchiedenen Menſchenarten, gehoͤren zu der Naturgeſchichte des Menſchen, die ich hier uͤbergehe. Aber was die Art und Weiſe des Ab- nehmens an Seelenkraͤften betrift, und welchen Begriff man aus der Erfahrung ſich davon zu machen habe? ob es in einem Verluſt beſtehe, oder in einer Wieder- einwickelung? worinnen es beſtehe, inſofern es in dem Organ der Seele vor ſich geht? und was es in der Seele ſelbſt ſey? dieß ſind Hauptſtuͤcke in der Philoſophie uͤber den Menſchen, woruͤber ich wuͤnſchte, einiges Licht verbreiten zu koͤnnen. 2. Die Abnahme der Seelenkraͤfte iſt eben ſo wenig eine Wiedereinwickelung der Vermoͤgen, als die Ahnahme des Koͤrpers ſo etwas iſt, wenn man ſich eine Ruͤckkehr in den ehemaligen Zuſtand der Jugend dar- unter vorſtellet, das iſt, in den Zuſtand, worinn die Seele vor der Entwickelung ihrer Vermoͤgen war, da ſie nur die Principe und Anlagen zu den nachherigen Vermoͤgen beſaß. Sonſten kann ſie anderer Beſchaf- fenheiten wegen, von gewiſſen Seiten betrachtet, wohl eine Einwickelung genennet werden. Man ſehe nur zuerſt auf das, was in dem Koͤrper geſchieht, wenn der Menſch alt wird. Es folgt keine Verjuͤngerung. Die entwickelte Form behaͤlt, den weſentlichen Stuͤcken nach, ihre einmal erlangte Groͤße, ihren Umfang und ihre Maſſe, und die Theile bleiben unter ſich in derſelbigen Lage und Ordnung, behalten dieſelbigen Verhaͤltniſſe auf- einander, wie ſie ſolche angenommen haben. Die we- nigen Veraͤnderungen in der Laͤnge und Groͤße, die Ver- kuͤrzungen der Faſern, ihre Verduͤnnung, und was man mehr noch unter dem Einkriechen des Alters begreift und eine Z z 4

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/757
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 727. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/757>, abgerufen am 22.11.2024.