Merkmale seines Alters, deswegen nicht physische Thei- le seines körperlichen Ganzen? Wir können diese Aehn- lichkeit fortsetzen. So wenig der alte Baum wiederum zu einem Reis eingewickelt wird, so wenig paßt sich auch diese Metapher auf das Altwerden des Menschen. Die entwickelte Menschheit wird nie wieder Kindheit.
Denn was die zwote Kindheit im höchsten Al- ter betrifft, die auch durch andere Ursachen beschleuni- get werden kann, so ist der Unterschied zwischen dieser und der eigentlichen Kindheit in Hinsicht der Seele eben so groß, als sie in Hinsicht des äußern Körpers ist. Man darf sich über die äußerliche Aehnlichkeit zwischen beiden nicht wundern, welche die Veranlassung gege- ben hat, jenen Zustand des Alters eine Kindheit zu nennen. Wenn die Steifigkeit in den Vorstellungen sich auch über die Spuren von den ehemals stärkern Thä- tigkeiten, und besonders von den Aktionen der Vernunft, die sonsten am längsten ihre Erweckbarkeit behalten, ausgebreitet hat: so wird es unmöglich, daß der Mensch sich seiner erworbenen Jdeen bedienen, oder nur seines vorigen Zustandes sich bewußt seyn könne. Jst nun die innere selbstthätige Kraft der Seele wirksam, so ist sie doch so unvermögend nach ihren erworbenen Vorstellun- gen sich zu äußern, als es das Kind ist, das noch kei- ne Vorstellungen hat. Dieß ist eine Aehnlichkeit zwi- schen beiden, die nothwendig eine ähnliche Unvorsichtig- keit und Mangel an Ueberlegung und Klugheit in den Handlungen zur Folge haben muß. Sonsten ist in dem Kinde keine entwickelte Kraft, keine erworbene Fertig- keit. Diese ist in dem kindischen Alten; nur kann sie nicht gebraucht werden. Dagegen ist die Receptivität des Kindes und seine Fassungskraft viel größer, we- nigstens an Extension. Denn man findet sonsten auch bey den Alten, daß sie noch immerfort neue Jdeen an- nehmen, die sie aber gleich wiederum vergessen und die
sie
IITheil. B b b
und Entwickelung des Menſchen.
Merkmale ſeines Alters, deswegen nicht phyſiſche Thei- le ſeines koͤrperlichen Ganzen? Wir koͤnnen dieſe Aehn- lichkeit fortſetzen. So wenig der alte Baum wiederum zu einem Reis eingewickelt wird, ſo wenig paßt ſich auch dieſe Metapher auf das Altwerden des Menſchen. Die entwickelte Menſchheit wird nie wieder Kindheit.
Denn was die zwote Kindheit im hoͤchſten Al- ter betrifft, die auch durch andere Urſachen beſchleuni- get werden kann, ſo iſt der Unterſchied zwiſchen dieſer und der eigentlichen Kindheit in Hinſicht der Seele eben ſo groß, als ſie in Hinſicht des aͤußern Koͤrpers iſt. Man darf ſich uͤber die aͤußerliche Aehnlichkeit zwiſchen beiden nicht wundern, welche die Veranlaſſung gege- ben hat, jenen Zuſtand des Alters eine Kindheit zu nennen. Wenn die Steifigkeit in den Vorſtellungen ſich auch uͤber die Spuren von den ehemals ſtaͤrkern Thaͤ- tigkeiten, und beſonders von den Aktionen der Vernunft, die ſonſten am laͤngſten ihre Erweckbarkeit behalten, ausgebreitet hat: ſo wird es unmoͤglich, daß der Menſch ſich ſeiner erworbenen Jdeen bedienen, oder nur ſeines vorigen Zuſtandes ſich bewußt ſeyn koͤnne. Jſt nun die innere ſelbſtthaͤtige Kraft der Seele wirkſam, ſo iſt ſie doch ſo unvermoͤgend nach ihren erworbenen Vorſtellun- gen ſich zu aͤußern, als es das Kind iſt, das noch kei- ne Vorſtellungen hat. Dieß iſt eine Aehnlichkeit zwi- ſchen beiden, die nothwendig eine aͤhnliche Unvorſichtig- keit und Mangel an Ueberlegung und Klugheit in den Handlungen zur Folge haben muß. Sonſten iſt in dem Kinde keine entwickelte Kraft, keine erworbene Fertig- keit. Dieſe iſt in dem kindiſchen Alten; nur kann ſie nicht gebraucht werden. Dagegen iſt die Receptivitaͤt des Kindes und ſeine Faſſungskraft viel groͤßer, we- nigſtens an Extenſion. Denn man findet ſonſten auch bey den Alten, daß ſie noch immerfort neue Jdeen an- nehmen, die ſie aber gleich wiederum vergeſſen und die
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und Entwickelung des Menſchen.
Merkmale ſeines Alters, deswegen nicht phyſiſche Thei-
le ſeines koͤrperlichen Ganzen? Wir koͤnnen dieſe Aehn-
lichkeit fortſetzen. So wenig der alte Baum wiederum
zu einem Reis eingewickelt wird, ſo wenig paßt ſich auch
dieſe Metapher auf das Altwerden des Menſchen. Die
entwickelte Menſchheit wird nie wieder Kindheit.
Denn was die zwote Kindheit im hoͤchſten Al-
ter betrifft, die auch durch andere Urſachen beſchleuni-
get werden kann, ſo iſt der Unterſchied zwiſchen dieſer
und der eigentlichen Kindheit in Hinſicht der Seele
eben ſo groß, als ſie in Hinſicht des aͤußern Koͤrpers iſt.
Man darf ſich uͤber die aͤußerliche Aehnlichkeit zwiſchen
beiden nicht wundern, welche die Veranlaſſung gege-
ben hat, jenen Zuſtand des Alters eine Kindheit zu
nennen. Wenn die Steifigkeit in den Vorſtellungen ſich
auch uͤber die Spuren von den ehemals ſtaͤrkern Thaͤ-
tigkeiten, und beſonders von den Aktionen der Vernunft,
die ſonſten am laͤngſten ihre Erweckbarkeit behalten,
ausgebreitet hat: ſo wird es unmoͤglich, daß der Menſch
ſich ſeiner erworbenen Jdeen bedienen, oder nur ſeines
vorigen Zuſtandes ſich bewußt ſeyn koͤnne. Jſt nun die
innere ſelbſtthaͤtige Kraft der Seele wirkſam, ſo iſt ſie
doch ſo unvermoͤgend nach ihren erworbenen Vorſtellun-
gen ſich zu aͤußern, als es das Kind iſt, das noch kei-
ne Vorſtellungen hat. Dieß iſt eine Aehnlichkeit zwi-
ſchen beiden, die nothwendig eine aͤhnliche Unvorſichtig-
keit und Mangel an Ueberlegung und Klugheit in den
Handlungen zur Folge haben muß. Sonſten iſt in dem
Kinde keine entwickelte Kraft, keine erworbene Fertig-
keit. Dieſe iſt in dem kindiſchen Alten; nur kann ſie
nicht gebraucht werden. Dagegen iſt die Receptivitaͤt
des Kindes und ſeine Faſſungskraft viel groͤßer, we-
nigſtens an Extenſion. Denn man findet ſonſten auch
bey den Alten, daß ſie noch immerfort neue Jdeen an-
nehmen, die ſie aber gleich wiederum vergeſſen und die
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 753. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/783>, abgerufen am 22.11.2024.
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