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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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XIV. Vers. Ueber die Perfektibilität
die wiedererweckende und darstellende Kraft in der See-
le für sich ihre ehemalige Stärke und Munterkeit be-
halten habe.

5.

Die Spuren ehemaliger Größe, Stärke und
Wirksamkeit in der Seele, welche im Alter, und an
sich kenntlich genug,
zurückgeblieben, obgleich nicht
mehr erweckbar sind, müssen doch ohne Zweifel etwas
Reelles in dem Menschen
seyn, wie es die entspre-
chenden Formen in den ersteiften und erstarrten Glie-
dern des Körpers sind. Jene sind Erhöhungen, Er-
weiterungen, reelle Zusätze der Grundvermögen und
Kräfte, also Zusätze an innerer Menschheit. Jst dieß
nicht der natürliche Grund der physischen Ehrwür-
digkeit der Alten,
und auch der nicht mehr brauchba-
ren Alten, die das gemeine Gefühl bey allen nicht ganz
barbarischen Völkern in ihnen antrifft? Dieß Gefühl
ist bey polizirten Nationen durch die Erziehung erhöhet,
sonst von Natur für sich allein so stark und hervordrin-
gend nicht, daß nicht stärkere Triebe solches eben sowohl
als andere natürliche Gefühle, z. B. die Liebe zu den
Kindern, unterdrücken könnten. Aber es ist deswegen
doch natürlich. Die vorigen Empfindungen, Bestre-
bungen und Thaten haben Züge in dem innern Seelen-
wesen gegraben, die noch übrig sind, auch in dem Al-
ten, der nur mühsam seinen Körper von der Stelle
bringt. Jene sind nicht mehr so brauchbar für die äus-
sere Welt, oder gar nicht, weil sie nicht reproducibel
sind; aber dennoch nicht ganz und gar ohne Folgen und
Wirkungen. Die alte ehrwürdige Eiche, obgleich in-
wendig schon zum Theil vermodert, ist doch noch mehr
Baum, wenigstens mehr Holz, als das Reis, das aus
der Erde hervorschießt. Der Saft fließt nicht mehr so
lebhaft in seinen Gefäßen, und dringt nicht mehr so voll
ein in seine angesetzten Ringe. Sind diese Ringe, die

Merk-

XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
die wiedererweckende und darſtellende Kraft in der See-
le fuͤr ſich ihre ehemalige Staͤrke und Munterkeit be-
halten habe.

5.

Die Spuren ehemaliger Groͤße, Staͤrke und
Wirkſamkeit in der Seele, welche im Alter, und an
ſich kenntlich genug,
zuruͤckgeblieben, obgleich nicht
mehr erweckbar ſind, muͤſſen doch ohne Zweifel etwas
Reelles in dem Menſchen
ſeyn, wie es die entſpre-
chenden Formen in den erſteiften und erſtarrten Glie-
dern des Koͤrpers ſind. Jene ſind Erhoͤhungen, Er-
weiterungen, reelle Zuſaͤtze der Grundvermoͤgen und
Kraͤfte, alſo Zuſaͤtze an innerer Menſchheit. Jſt dieß
nicht der natuͤrliche Grund der phyſiſchen Ehrwuͤr-
digkeit der Alten,
und auch der nicht mehr brauchba-
ren Alten, die das gemeine Gefuͤhl bey allen nicht ganz
barbariſchen Voͤlkern in ihnen antrifft? Dieß Gefuͤhl
iſt bey polizirten Nationen durch die Erziehung erhoͤhet,
ſonſt von Natur fuͤr ſich allein ſo ſtark und hervordrin-
gend nicht, daß nicht ſtaͤrkere Triebe ſolches eben ſowohl
als andere natuͤrliche Gefuͤhle, z. B. die Liebe zu den
Kindern, unterdruͤcken koͤnnten. Aber es iſt deswegen
doch natuͤrlich. Die vorigen Empfindungen, Beſtre-
bungen und Thaten haben Zuͤge in dem innern Seelen-
weſen gegraben, die noch uͤbrig ſind, auch in dem Al-
ten, der nur muͤhſam ſeinen Koͤrper von der Stelle
bringt. Jene ſind nicht mehr ſo brauchbar fuͤr die aͤuſ-
ſere Welt, oder gar nicht, weil ſie nicht reproducibel
ſind; aber dennoch nicht ganz und gar ohne Folgen und
Wirkungen. Die alte ehrwuͤrdige Eiche, obgleich in-
wendig ſchon zum Theil vermodert, iſt doch noch mehr
Baum, wenigſtens mehr Holz, als das Reis, das aus
der Erde hervorſchießt. Der Saft fließt nicht mehr ſo
lebhaft in ſeinen Gefaͤßen, und dringt nicht mehr ſo voll
ein in ſeine angeſetzten Ringe. Sind dieſe Ringe, die

Merk-
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[752/0782] XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt die wiedererweckende und darſtellende Kraft in der See- le fuͤr ſich ihre ehemalige Staͤrke und Munterkeit be- halten habe. 5. Die Spuren ehemaliger Groͤße, Staͤrke und Wirkſamkeit in der Seele, welche im Alter, und an ſich kenntlich genug, zuruͤckgeblieben, obgleich nicht mehr erweckbar ſind, muͤſſen doch ohne Zweifel etwas Reelles in dem Menſchen ſeyn, wie es die entſpre- chenden Formen in den erſteiften und erſtarrten Glie- dern des Koͤrpers ſind. Jene ſind Erhoͤhungen, Er- weiterungen, reelle Zuſaͤtze der Grundvermoͤgen und Kraͤfte, alſo Zuſaͤtze an innerer Menſchheit. Jſt dieß nicht der natuͤrliche Grund der phyſiſchen Ehrwuͤr- digkeit der Alten, und auch der nicht mehr brauchba- ren Alten, die das gemeine Gefuͤhl bey allen nicht ganz barbariſchen Voͤlkern in ihnen antrifft? Dieß Gefuͤhl iſt bey polizirten Nationen durch die Erziehung erhoͤhet, ſonſt von Natur fuͤr ſich allein ſo ſtark und hervordrin- gend nicht, daß nicht ſtaͤrkere Triebe ſolches eben ſowohl als andere natuͤrliche Gefuͤhle, z. B. die Liebe zu den Kindern, unterdruͤcken koͤnnten. Aber es iſt deswegen doch natuͤrlich. Die vorigen Empfindungen, Beſtre- bungen und Thaten haben Zuͤge in dem innern Seelen- weſen gegraben, die noch uͤbrig ſind, auch in dem Al- ten, der nur muͤhſam ſeinen Koͤrper von der Stelle bringt. Jene ſind nicht mehr ſo brauchbar fuͤr die aͤuſ- ſere Welt, oder gar nicht, weil ſie nicht reproducibel ſind; aber dennoch nicht ganz und gar ohne Folgen und Wirkungen. Die alte ehrwuͤrdige Eiche, obgleich in- wendig ſchon zum Theil vermodert, iſt doch noch mehr Baum, wenigſtens mehr Holz, als das Reis, das aus der Erde hervorſchießt. Der Saft fließt nicht mehr ſo lebhaft in ſeinen Gefaͤßen, und dringt nicht mehr ſo voll ein in ſeine angeſetzten Ringe. Sind dieſe Ringe, die Merk-

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 752. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/782>, abgerufen am 22.11.2024.