Beweise dienen, wie wenig Grund man habe daraus, daß diese oder jene Vorstellungen unter gewissen Um- ständen nicht reproducibel sind, zu schließen, sie könn- ten niemals wieder erwecket werden. Jn dem mittlern Alter sind uns unzählige Dinge aus der Jugend her entfallen, an die wir nicht nur nicht gedenken, sondern auf die wir uns auch nicht besinnen können. Die Seele ist alsdenn zu sehr auf das Gegenwärtige und Künftige gerichtet, und kann ihre Kraft zur Wiedererweckung des so wenig interessanten Vergangenen nicht verwen- den. Aber im Alter kommt sie wiederum darauf zu- rück. Einem gewissen Gelehrten von einigen siebenzig Jahren fielen die Regeln aus seinem Donat von selbst ein, an die er in funfzig Jahren wohl dann und wann gedacht, aber die er schwerlich nach ihrem ganzen Jn- halt wiederholt hatte, oder auch nur wiederholen können.
Allein eben diese Bemerkung bey dem Alter führet noch zu einer andern Folge, oder bestätiget solche doch und macht sie sehr wahrscheinlich; zu dieser nämlich: Jede Vorstellung läßt nicht nur irgend eine Spur oder Folge von sich in der Seele zurück, sondern "jedwede, "die einmal so weit eingeprägt ist, daß sie abgesondert "erweckbar geworden, behält auch diese ihre abgeson- "derte Erweckbarkeit und absolute Erkennbarkeit auf "immer," wenn gleich die Erinnerungskraft in einem gewissen Zustande unvermögend ist, sowohl sie zu erwe- cken, als sie wieder zu erkennen. Wahrscheinlich ist es also, daß bloß vergessene Vorstellungen, die nicht we- gen einer innern Steifigkeit in den Fibern unerweckbar sind, es aus keiner andern Ursache seyn mögen, als weil sie zu sehr von andern klärern verhüllt sind, die sie ein- fassen und verdunkeln. Das Vergessene und Verlernte würde also wiederhergestellt werden, sobald an der sie zurückhaltenden oder sie unkenntlich machenden Jdeen- association etwas verändert würde; vorausgesetzt, daß
die
und Entwickelung des Menſchen.
Beweiſe dienen, wie wenig Grund man habe daraus, daß dieſe oder jene Vorſtellungen unter gewiſſen Um- ſtaͤnden nicht reproducibel ſind, zu ſchließen, ſie koͤnn- ten niemals wieder erwecket werden. Jn dem mittlern Alter ſind uns unzaͤhlige Dinge aus der Jugend her entfallen, an die wir nicht nur nicht gedenken, ſondern auf die wir uns auch nicht beſinnen koͤnnen. Die Seele iſt alsdenn zu ſehr auf das Gegenwaͤrtige und Kuͤnftige gerichtet, und kann ihre Kraft zur Wiedererweckung des ſo wenig intereſſanten Vergangenen nicht verwen- den. Aber im Alter kommt ſie wiederum darauf zu- ruͤck. Einem gewiſſen Gelehrten von einigen ſiebenzig Jahren fielen die Regeln aus ſeinem Donat von ſelbſt ein, an die er in funfzig Jahren wohl dann und wann gedacht, aber die er ſchwerlich nach ihrem ganzen Jn- halt wiederholt hatte, oder auch nur wiederholen koͤnnen.
Allein eben dieſe Bemerkung bey dem Alter fuͤhret noch zu einer andern Folge, oder beſtaͤtiget ſolche doch und macht ſie ſehr wahrſcheinlich; zu dieſer naͤmlich: Jede Vorſtellung laͤßt nicht nur irgend eine Spur oder Folge von ſich in der Seele zuruͤck, ſondern „jedwede, „die einmal ſo weit eingepraͤgt iſt, daß ſie abgeſondert „erweckbar geworden, behaͤlt auch dieſe ihre abgeſon- „derte Erweckbarkeit und abſolute Erkennbarkeit auf „immer,“ wenn gleich die Erinnerungskraft in einem gewiſſen Zuſtande unvermoͤgend iſt, ſowohl ſie zu erwe- cken, als ſie wieder zu erkennen. Wahrſcheinlich iſt es alſo, daß bloß vergeſſene Vorſtellungen, die nicht we- gen einer innern Steifigkeit in den Fibern unerweckbar ſind, es aus keiner andern Urſache ſeyn moͤgen, als weil ſie zu ſehr von andern klaͤrern verhuͤllt ſind, die ſie ein- faſſen und verdunkeln. Das Vergeſſene und Verlernte wuͤrde alſo wiederhergeſtellt werden, ſobald an der ſie zuruͤckhaltenden oder ſie unkenntlich machenden Jdeen- aſſociation etwas veraͤndert wuͤrde; vorausgeſetzt, daß
die
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und Entwickelung des Menſchen.
Beweiſe dienen, wie wenig Grund man habe daraus,
daß dieſe oder jene Vorſtellungen unter gewiſſen Um-
ſtaͤnden nicht reproducibel ſind, zu ſchließen, ſie koͤnn-
ten niemals wieder erwecket werden. Jn dem mittlern
Alter ſind uns unzaͤhlige Dinge aus der Jugend her
entfallen, an die wir nicht nur nicht gedenken, ſondern
auf die wir uns auch nicht beſinnen koͤnnen. Die Seele
iſt alsdenn zu ſehr auf das Gegenwaͤrtige und Kuͤnftige
gerichtet, und kann ihre Kraft zur Wiedererweckung
des ſo wenig intereſſanten Vergangenen nicht verwen-
den. Aber im Alter kommt ſie wiederum darauf zu-
ruͤck. Einem gewiſſen Gelehrten von einigen ſiebenzig
Jahren fielen die Regeln aus ſeinem Donat von ſelbſt
ein, an die er in funfzig Jahren wohl dann und wann
gedacht, aber die er ſchwerlich nach ihrem ganzen Jn-
halt wiederholt hatte, oder auch nur wiederholen koͤnnen.
Allein eben dieſe Bemerkung bey dem Alter fuͤhret
noch zu einer andern Folge, oder beſtaͤtiget ſolche doch
und macht ſie ſehr wahrſcheinlich; zu dieſer naͤmlich:
Jede Vorſtellung laͤßt nicht nur irgend eine Spur oder
Folge von ſich in der Seele zuruͤck, ſondern „jedwede,
„die einmal ſo weit eingepraͤgt iſt, daß ſie abgeſondert
„erweckbar geworden, behaͤlt auch dieſe ihre abgeſon-
„derte Erweckbarkeit und abſolute Erkennbarkeit auf
„immer,“ wenn gleich die Erinnerungskraft in einem
gewiſſen Zuſtande unvermoͤgend iſt, ſowohl ſie zu erwe-
cken, als ſie wieder zu erkennen. Wahrſcheinlich iſt es
alſo, daß bloß vergeſſene Vorſtellungen, die nicht we-
gen einer innern Steifigkeit in den Fibern unerweckbar
ſind, es aus keiner andern Urſache ſeyn moͤgen, als weil
ſie zu ſehr von andern klaͤrern verhuͤllt ſind, die ſie ein-
faſſen und verdunkeln. Das Vergeſſene und Verlernte
wuͤrde alſo wiederhergeſtellt werden, ſobald an der ſie
zuruͤckhaltenden oder ſie unkenntlich machenden Jdeen-
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 751. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/781>, abgerufen am 22.11.2024.
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