die düstern Ahndungen vieler andern ab, die vielleicht noch jetzo nicht den kleinsten Theil der Stimmgebenden ausmachen, welche dem Poeten nachsagen:
Aetas parentum peior avis tulit Nos nequiores, mox daturos Progeniem vitiosiorem.
Soll man das eine hoffen, oder das andere fürchten? Man wird es desto leichter thun, je mehr man nur von einer Seite den gegenwärtigen Zustand der Menschheit übersieht. Richtet man das Auge auf beides, auf die Vervollkommnungsmittel, welche da sind, auf die Wirksamkeit der Ursachen und Kräfte, von denen sie ge- trieben werden, und dann auch auf die Hindernisse und Gegenkräfte, welche in der Natur des Menschen eine nie versiegende Quelle haben und, wenn gleich mit jedem Zeitalter überwunden, doch in jedem folgenden vom neuen wieder da sind und wirken; hält man beides gegen ein- ander: so wird mans schwer finden, zu entscheiden, wel- che Erwartung die gegründetste sey, und noch schwe- rer die Größe ihrer Wahrscheinlichkeit zu bestimmen. Sollte es eine fortschreitende Aufhellung, Entwicke- lung und Vervollkommnung in dem menschlichen Ge- schlecht geben, und einen zur Seite gehenden Fortschritt an Wohlfahrt und Glückseligkeit im Ganzen? Die letz- tere will ich hier noch absondern. Mag denn diese Ver- edelung nur langsam fortgehen; mag es Perioden des Stillstehens in ihr geben, oder gar solche, worinn sie etwas zurückgeht, die aber durch andere, in denen sie schneller wieder fortwächst, ersetzt werden? Oder soll- te die Summe der menschlichen Vollkommenheit und Glückseligkeit im Ganzen vielleicht eine beständige Größe seyn, oder doch nur eine so wenig veränderliche, daß hierauf nicht zu rechnen wäre? Möchte denn gleich in besondern Ländern und Gegenden eine Abwechselung
seyn,
XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
die duͤſtern Ahndungen vieler andern ab, die vielleicht noch jetzo nicht den kleinſten Theil der Stimmgebenden ausmachen, welche dem Poeten nachſagen:
Aetas parentum peior avis tulit Nos nequiores, mox daturos Progeniem vitioſiorem.
Soll man das eine hoffen, oder das andere fuͤrchten? Man wird es deſto leichter thun, je mehr man nur von einer Seite den gegenwaͤrtigen Zuſtand der Menſchheit uͤberſieht. Richtet man das Auge auf beides, auf die Vervollkommnungsmittel, welche da ſind, auf die Wirkſamkeit der Urſachen und Kraͤfte, von denen ſie ge- trieben werden, und dann auch auf die Hinderniſſe und Gegenkraͤfte, welche in der Natur des Menſchen eine nie verſiegende Quelle haben und, wenn gleich mit jedem Zeitalter uͤberwunden, doch in jedem folgenden vom neuen wieder da ſind und wirken; haͤlt man beides gegen ein- ander: ſo wird mans ſchwer finden, zu entſcheiden, wel- che Erwartung die gegruͤndetſte ſey, und noch ſchwe- rer die Groͤße ihrer Wahrſcheinlichkeit zu beſtimmen. Sollte es eine fortſchreitende Aufhellung, Entwicke- lung und Vervollkommnung in dem menſchlichen Ge- ſchlecht geben, und einen zur Seite gehenden Fortſchritt an Wohlfahrt und Gluͤckſeligkeit im Ganzen? Die letz- tere will ich hier noch abſondern. Mag denn dieſe Ver- edelung nur langſam fortgehen; mag es Perioden des Stillſtehens in ihr geben, oder gar ſolche, worinn ſie etwas zuruͤckgeht, die aber durch andere, in denen ſie ſchneller wieder fortwaͤchſt, erſetzt werden? Oder ſoll- te die Summe der menſchlichen Vollkommenheit und Gluͤckſeligkeit im Ganzen vielleicht eine beſtaͤndige Groͤße ſeyn, oder doch nur eine ſo wenig veraͤnderliche, daß hierauf nicht zu rechnen waͤre? Moͤchte denn gleich in beſondern Laͤndern und Gegenden eine Abwechſelung
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XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
die duͤſtern Ahndungen vieler andern ab, die vielleicht
noch jetzo nicht den kleinſten Theil der Stimmgebenden
ausmachen, welche dem Poeten nachſagen:
Aetas parentum peior avis tulit
Nos nequiores, mox daturos
Progeniem vitioſiorem.
Soll man das eine hoffen, oder das andere fuͤrchten?
Man wird es deſto leichter thun, je mehr man nur von
einer Seite den gegenwaͤrtigen Zuſtand der Menſchheit
uͤberſieht. Richtet man das Auge auf beides, auf die
Vervollkommnungsmittel, welche da ſind, auf die
Wirkſamkeit der Urſachen und Kraͤfte, von denen ſie ge-
trieben werden, und dann auch auf die Hinderniſſe und
Gegenkraͤfte, welche in der Natur des Menſchen eine
nie verſiegende Quelle haben und, wenn gleich mit jedem
Zeitalter uͤberwunden, doch in jedem folgenden vom neuen
wieder da ſind und wirken; haͤlt man beides gegen ein-
ander: ſo wird mans ſchwer finden, zu entſcheiden, wel-
che Erwartung die gegruͤndetſte ſey, und noch ſchwe-
rer die Groͤße ihrer Wahrſcheinlichkeit zu beſtimmen.
Sollte es eine fortſchreitende Aufhellung, Entwicke-
lung und Vervollkommnung in dem menſchlichen Ge-
ſchlecht geben, und einen zur Seite gehenden Fortſchritt
an Wohlfahrt und Gluͤckſeligkeit im Ganzen? Die letz-
tere will ich hier noch abſondern. Mag denn dieſe Ver-
edelung nur langſam fortgehen; mag es Perioden des
Stillſtehens in ihr geben, oder gar ſolche, worinn ſie
etwas zuruͤckgeht, die aber durch andere, in denen ſie
ſchneller wieder fortwaͤchſt, erſetzt werden? Oder ſoll-
te die Summe der menſchlichen Vollkommenheit und
Gluͤckſeligkeit im Ganzen vielleicht eine beſtaͤndige
Groͤße ſeyn, oder doch nur eine ſo wenig veraͤnderliche,
daß hierauf nicht zu rechnen waͤre? Moͤchte denn gleich
in beſondern Laͤndern und Gegenden eine Abwechſelung
ſeyn,
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 768. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/798>, abgerufen am 22.11.2024.
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