letztere auch äußert, wird es doch von Eitelkeit und Stolz durchwebet seyn, die beide entstehen, indem man das in- nere Leere an wahren Empfindungen durch Einbildungen zu füllen sucht. Es sind endlich sehr wenige, bey denen der Entwickelungstrieb in den höhern Seelenkräften über- wiegend ist. So ein Boden muß aber da seyn, wenn die uneigennützige Lust an anderer Wohl, und der Hang selbstthätige Menschen um sich zu haben und solche zu bilden, grundfest werden soll. Die wahre Großmuth setzet ein Gefühl innerer Stärke und Sicherheit voraus. Wenn die Menschenliebe nicht aus dieser Quelle entsprin- get, so ist sie anfangs ein Ausfluß des Eigennutzes, der sehr unrein ist, doch aber durch Aufklärung des Ver- standes zu einer reinen Tugend gemacht werden kann. Bey den meisten, vielleicht bey allen, mehr oder weniger, ist nur erst auf diese Weise dazu gemacht worden.
Will man auch hier sagen, daß in Hinsicht der Na- turanlagen unter den Jndividuen kein Unterschied sey: so thut dieß wenig zur Sache. Es sind doch, wie die Geschichte aller Zeiten bisher gezeiget hat, Ursachen in der Welt vorhanden, welche eine gleiche Entwickelung in allen unmöglich machen; sie mögen nun in den Natu- ren selbst liegen, oder in den Umständen und unvermeid- lichen Einschränkungen, die alsdenn entstehen, wenn vie- le zugleich zu vervollkommnen sind.
Wenn man auf den ersten Grund der Stufenver- schiedenheit, die sich in der Entwickelung der Jndividuen findet, zurückgeht, und ihn in dem Verhältniß der Sinnlichkeit zu den höhern vernünftigen See- lentrieben aufsuchet, und dieß Verhältniß so nimmt, wie es in dem ganzen Geschlechte vorhanden ist, so kann man kaum einmal wünschen, daß es gar zu sehr verän- dert werde. Noch weniger findet man Ursache, der Vorsehung darüber Vorwürfe zu machen, daß es so sey, wie es von Natur ist. So lange der Mensch das ist,
was
XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
letztere auch aͤußert, wird es doch von Eitelkeit und Stolz durchwebet ſeyn, die beide entſtehen, indem man das in- nere Leere an wahren Empfindungen durch Einbildungen zu fuͤllen ſucht. Es ſind endlich ſehr wenige, bey denen der Entwickelungstrieb in den hoͤhern Seelenkraͤften uͤber- wiegend iſt. So ein Boden muß aber da ſeyn, wenn die uneigennuͤtzige Luſt an anderer Wohl, und der Hang ſelbſtthaͤtige Menſchen um ſich zu haben und ſolche zu bilden, grundfeſt werden ſoll. Die wahre Großmuth ſetzet ein Gefuͤhl innerer Staͤrke und Sicherheit voraus. Wenn die Menſchenliebe nicht aus dieſer Quelle entſprin- get, ſo iſt ſie anfangs ein Ausfluß des Eigennutzes, der ſehr unrein iſt, doch aber durch Aufklaͤrung des Ver- ſtandes zu einer reinen Tugend gemacht werden kann. Bey den meiſten, vielleicht bey allen, mehr oder weniger, iſt nur erſt auf dieſe Weiſe dazu gemacht worden.
Will man auch hier ſagen, daß in Hinſicht der Na- turanlagen unter den Jndividuen kein Unterſchied ſey: ſo thut dieß wenig zur Sache. Es ſind doch, wie die Geſchichte aller Zeiten bisher gezeiget hat, Urſachen in der Welt vorhanden, welche eine gleiche Entwickelung in allen unmoͤglich machen; ſie moͤgen nun in den Natu- ren ſelbſt liegen, oder in den Umſtaͤnden und unvermeid- lichen Einſchraͤnkungen, die alsdenn entſtehen, wenn vie- le zugleich zu vervollkommnen ſind.
Wenn man auf den erſten Grund der Stufenver- ſchiedenheit, die ſich in der Entwickelung der Jndividuen findet, zuruͤckgeht, und ihn in dem Verhaͤltniß der Sinnlichkeit zu den hoͤhern vernuͤnftigen See- lentrieben aufſuchet, und dieß Verhaͤltniß ſo nimmt, wie es in dem ganzen Geſchlechte vorhanden iſt, ſo kann man kaum einmal wuͤnſchen, daß es gar zu ſehr veraͤn- dert werde. Noch weniger findet man Urſache, der Vorſehung daruͤber Vorwuͤrfe zu machen, daß es ſo ſey, wie es von Natur iſt. So lange der Menſch das iſt,
was
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0816"n="786"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b"><hirendition="#aq">XIV.</hi> Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt</hi></fw><lb/>
letztere auch aͤußert, wird es doch von Eitelkeit und Stolz<lb/>
durchwebet ſeyn, die beide entſtehen, indem man das in-<lb/>
nere Leere an wahren Empfindungen durch Einbildungen<lb/>
zu fuͤllen ſucht. Es ſind endlich ſehr wenige, bey denen<lb/>
der Entwickelungstrieb in den hoͤhern Seelenkraͤften uͤber-<lb/>
wiegend iſt. So ein Boden muß aber da ſeyn, wenn<lb/>
die uneigennuͤtzige Luſt an anderer Wohl, und der Hang<lb/>ſelbſtthaͤtige Menſchen um ſich zu haben und ſolche zu<lb/>
bilden, grundfeſt werden ſoll. Die wahre Großmuth<lb/>ſetzet ein Gefuͤhl innerer Staͤrke und Sicherheit voraus.<lb/>
Wenn die Menſchenliebe nicht aus dieſer Quelle entſprin-<lb/>
get, ſo iſt ſie anfangs ein Ausfluß des Eigennutzes, der<lb/>ſehr unrein iſt, doch aber durch Aufklaͤrung des Ver-<lb/>ſtandes zu einer reinen Tugend gemacht werden kann.<lb/>
Bey den meiſten, vielleicht bey allen, mehr oder weniger,<lb/>
iſt nur erſt auf dieſe Weiſe dazu gemacht worden.</p><lb/><p>Will man auch hier ſagen, daß in Hinſicht der Na-<lb/>
turanlagen unter den Jndividuen kein Unterſchied ſey:<lb/>ſo thut dieß wenig zur Sache. Es ſind doch, wie die<lb/>
Geſchichte aller Zeiten bisher gezeiget hat, Urſachen in<lb/>
der Welt vorhanden, welche eine gleiche Entwickelung in<lb/>
allen unmoͤglich machen; ſie moͤgen nun in den Natu-<lb/>
ren ſelbſt liegen, oder in den Umſtaͤnden und unvermeid-<lb/>
lichen Einſchraͤnkungen, die alsdenn entſtehen, wenn vie-<lb/>
le zugleich zu vervollkommnen ſind.</p><lb/><p>Wenn man auf den erſten Grund der Stufenver-<lb/>ſchiedenheit, die ſich in der Entwickelung der Jndividuen<lb/>
findet, zuruͤckgeht, und ihn in dem <hirendition="#fr">Verhaͤltniß der<lb/>
Sinnlichkeit zu den hoͤhern vernuͤnftigen See-<lb/>
lentrieben</hi> aufſuchet, und dieß Verhaͤltniß ſo nimmt,<lb/>
wie es in dem ganzen Geſchlechte vorhanden iſt, ſo kann<lb/>
man kaum einmal wuͤnſchen, daß es gar zu ſehr veraͤn-<lb/>
dert werde. Noch weniger findet man Urſache, der<lb/>
Vorſehung daruͤber Vorwuͤrfe zu machen, daß es ſo ſey,<lb/>
wie es <hirendition="#fr">von Natur</hi> iſt. So lange der Menſch das iſt,<lb/><fwplace="bottom"type="catch">was</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[786/0816]
XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
letztere auch aͤußert, wird es doch von Eitelkeit und Stolz
durchwebet ſeyn, die beide entſtehen, indem man das in-
nere Leere an wahren Empfindungen durch Einbildungen
zu fuͤllen ſucht. Es ſind endlich ſehr wenige, bey denen
der Entwickelungstrieb in den hoͤhern Seelenkraͤften uͤber-
wiegend iſt. So ein Boden muß aber da ſeyn, wenn
die uneigennuͤtzige Luſt an anderer Wohl, und der Hang
ſelbſtthaͤtige Menſchen um ſich zu haben und ſolche zu
bilden, grundfeſt werden ſoll. Die wahre Großmuth
ſetzet ein Gefuͤhl innerer Staͤrke und Sicherheit voraus.
Wenn die Menſchenliebe nicht aus dieſer Quelle entſprin-
get, ſo iſt ſie anfangs ein Ausfluß des Eigennutzes, der
ſehr unrein iſt, doch aber durch Aufklaͤrung des Ver-
ſtandes zu einer reinen Tugend gemacht werden kann.
Bey den meiſten, vielleicht bey allen, mehr oder weniger,
iſt nur erſt auf dieſe Weiſe dazu gemacht worden.
Will man auch hier ſagen, daß in Hinſicht der Na-
turanlagen unter den Jndividuen kein Unterſchied ſey:
ſo thut dieß wenig zur Sache. Es ſind doch, wie die
Geſchichte aller Zeiten bisher gezeiget hat, Urſachen in
der Welt vorhanden, welche eine gleiche Entwickelung in
allen unmoͤglich machen; ſie moͤgen nun in den Natu-
ren ſelbſt liegen, oder in den Umſtaͤnden und unvermeid-
lichen Einſchraͤnkungen, die alsdenn entſtehen, wenn vie-
le zugleich zu vervollkommnen ſind.
Wenn man auf den erſten Grund der Stufenver-
ſchiedenheit, die ſich in der Entwickelung der Jndividuen
findet, zuruͤckgeht, und ihn in dem Verhaͤltniß der
Sinnlichkeit zu den hoͤhern vernuͤnftigen See-
lentrieben aufſuchet, und dieß Verhaͤltniß ſo nimmt,
wie es in dem ganzen Geſchlechte vorhanden iſt, ſo kann
man kaum einmal wuͤnſchen, daß es gar zu ſehr veraͤn-
dert werde. Noch weniger findet man Urſache, der
Vorſehung daruͤber Vorwuͤrfe zu machen, daß es ſo ſey,
wie es von Natur iſt. So lange der Menſch das iſt,
was
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 786. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/816>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.