Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

und Entwickelung des Menschen.
was er ist, nämlich ein thierisches, obgleich ein vernünfti-
ges Wesen, und in einer Welt wie diese, die ihm we-
der seinen Unterhalt, noch die Mittel zur höhern Ent-
wickelung giebt, ohne körperliche Arbeit: so lange wird
auch der Theil seines Wohls, der durch sinnliche und
thierische Kräfte beschaffet werden muß, zu demjenigen,
wozu höhere selbstthätige Geistesvermögen gehören, sich
so verhalten, daß es zum Besten des Ganzen immer
nothwendig bleibet, daß jener mehrere sind, daß sie öf-
terer und stärkerer wirken, und daß also die Veranlassun-
gen sie zu entwickeln häufiger vorhanden sind, als in Hin-
sicht der letztern. Es könnte im Ganzen wohl des gei-
stigen Wesens zu viel werden. Zum Glück ist dieß
nun eben nicht leicht zu besorgen; und gewiß nimmer-
mehr so sehr, daß die auf Aufklärung der Vernunft und
Verbreitung der Tugend abzielenden Bestrebungen der
Rechtschaffenen überflüßig werden könnten.

Wenn man mit dieser natürlichen Ungleichheit der
Menschen verbindet, daß jedes Jndividuum seine Ver-
vollkommnung von derselbigen niedrigsten Stufe anfan-
gen muß: so zeiget sich eine unangenehme Aussicht,
welche die Hoffnung auf eine allgemeine Aufklärung der
Menschheit verdunkelt. Hierzu kommt noch mehr, wenn
man auf die Mittel selbst sieht, wodurch jene erhalten
werden soll.

Die Vervollkommnungsmittel mögen einmal alle
zur Anwendung gebracht seyn: so ist es auch nöthig,
daß sie immerfort in derselbigen Stärke, und in dersel-
bigen Richtung auf ihren Zweck erhalten werden. Son-
sten verlieren sie ihre Wirksamkeit gar bald. Jst z. B.
die Erziehung in einer Generation gut eingerichtet, so
sind es nicht allein Zufälle, Landplagen, Verherungen,
die sie wiederum zurücksetzen und zerstören können; es
ist genug um sie unwirksam zu machen, daß ihr der Geist
entzogen werde, der anfangs in den Anstalten wirkte.

Alle
D d d 2

und Entwickelung des Menſchen.
was er iſt, naͤmlich ein thieriſches, obgleich ein vernuͤnfti-
ges Weſen, und in einer Welt wie dieſe, die ihm we-
der ſeinen Unterhalt, noch die Mittel zur hoͤhern Ent-
wickelung giebt, ohne koͤrperliche Arbeit: ſo lange wird
auch der Theil ſeines Wohls, der durch ſinnliche und
thieriſche Kraͤfte beſchaffet werden muß, zu demjenigen,
wozu hoͤhere ſelbſtthaͤtige Geiſtesvermoͤgen gehoͤren, ſich
ſo verhalten, daß es zum Beſten des Ganzen immer
nothwendig bleibet, daß jener mehrere ſind, daß ſie oͤf-
terer und ſtaͤrkerer wirken, und daß alſo die Veranlaſſun-
gen ſie zu entwickeln haͤufiger vorhanden ſind, als in Hin-
ſicht der letztern. Es koͤnnte im Ganzen wohl des gei-
ſtigen Weſens zu viel werden. Zum Gluͤck iſt dieß
nun eben nicht leicht zu beſorgen; und gewiß nimmer-
mehr ſo ſehr, daß die auf Aufklaͤrung der Vernunft und
Verbreitung der Tugend abzielenden Beſtrebungen der
Rechtſchaffenen uͤberfluͤßig werden koͤnnten.

Wenn man mit dieſer natuͤrlichen Ungleichheit der
Menſchen verbindet, daß jedes Jndividuum ſeine Ver-
vollkommnung von derſelbigen niedrigſten Stufe anfan-
gen muß: ſo zeiget ſich eine unangenehme Ausſicht,
welche die Hoffnung auf eine allgemeine Aufklaͤrung der
Menſchheit verdunkelt. Hierzu kommt noch mehr, wenn
man auf die Mittel ſelbſt ſieht, wodurch jene erhalten
werden ſoll.

Die Vervollkommnungsmittel moͤgen einmal alle
zur Anwendung gebracht ſeyn: ſo iſt es auch noͤthig,
daß ſie immerfort in derſelbigen Staͤrke, und in derſel-
bigen Richtung auf ihren Zweck erhalten werden. Son-
ſten verlieren ſie ihre Wirkſamkeit gar bald. Jſt z. B.
die Erziehung in einer Generation gut eingerichtet, ſo
ſind es nicht allein Zufaͤlle, Landplagen, Verherungen,
die ſie wiederum zuruͤckſetzen und zerſtoͤren koͤnnen; es
iſt genug um ſie unwirkſam zu machen, daß ihr der Geiſt
entzogen werde, der anfangs in den Anſtalten wirkte.

Alle
D d d 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0817" n="787"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">und Entwickelung des Men&#x017F;chen.</hi></fw><lb/>
was er i&#x017F;t, na&#x0364;mlich ein thieri&#x017F;ches, obgleich ein vernu&#x0364;nfti-<lb/>
ges We&#x017F;en, und in einer Welt wie die&#x017F;e, die ihm we-<lb/>
der &#x017F;einen Unterhalt, noch die Mittel zur ho&#x0364;hern Ent-<lb/>
wickelung giebt, ohne ko&#x0364;rperliche Arbeit: &#x017F;o lange wird<lb/>
auch der Theil &#x017F;eines Wohls, der durch &#x017F;innliche und<lb/>
thieri&#x017F;che Kra&#x0364;fte be&#x017F;chaffet werden muß, zu demjenigen,<lb/>
wozu ho&#x0364;here &#x017F;elb&#x017F;ttha&#x0364;tige Gei&#x017F;tesvermo&#x0364;gen geho&#x0364;ren, &#x017F;ich<lb/>
&#x017F;o verhalten, daß es zum Be&#x017F;ten des Ganzen immer<lb/>
nothwendig bleibet, daß jener mehrere &#x017F;ind, daß &#x017F;ie o&#x0364;f-<lb/>
terer und &#x017F;ta&#x0364;rkerer wirken, und daß al&#x017F;o die Veranla&#x017F;&#x017F;un-<lb/>
gen &#x017F;ie zu entwickeln ha&#x0364;ufiger vorhanden &#x017F;ind, als in Hin-<lb/>
&#x017F;icht der letztern. Es ko&#x0364;nnte im Ganzen wohl des gei-<lb/>
&#x017F;tigen We&#x017F;ens zu viel werden. Zum Glu&#x0364;ck i&#x017F;t dieß<lb/>
nun eben nicht leicht zu be&#x017F;orgen; und gewiß nimmer-<lb/>
mehr &#x017F;o &#x017F;ehr, daß die auf Aufkla&#x0364;rung der Vernunft und<lb/>
Verbreitung der Tugend abzielenden Be&#x017F;trebungen der<lb/>
Recht&#x017F;chaffenen u&#x0364;berflu&#x0364;ßig werden ko&#x0364;nnten.</p><lb/>
            <p>Wenn man mit die&#x017F;er natu&#x0364;rlichen Ungleichheit der<lb/>
Men&#x017F;chen verbindet, daß jedes Jndividuum &#x017F;eine Ver-<lb/>
vollkommnung von der&#x017F;elbigen niedrig&#x017F;ten Stufe anfan-<lb/>
gen muß: &#x017F;o zeiget &#x017F;ich eine unangenehme Aus&#x017F;icht,<lb/>
welche die Hoffnung auf eine allgemeine Aufkla&#x0364;rung der<lb/>
Men&#x017F;chheit verdunkelt. Hierzu kommt noch mehr, wenn<lb/>
man auf die Mittel &#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;ieht, wodurch jene erhalten<lb/>
werden &#x017F;oll.</p><lb/>
            <p>Die Vervollkommnungsmittel mo&#x0364;gen einmal alle<lb/>
zur Anwendung gebracht &#x017F;eyn: &#x017F;o i&#x017F;t es auch no&#x0364;thig,<lb/>
daß &#x017F;ie immerfort in der&#x017F;elbigen Sta&#x0364;rke, und in der&#x017F;el-<lb/>
bigen Richtung auf ihren Zweck erhalten werden. Son-<lb/>
&#x017F;ten verlieren &#x017F;ie ihre Wirk&#x017F;amkeit gar bald. J&#x017F;t z. B.<lb/>
die Erziehung in einer Generation gut eingerichtet, &#x017F;o<lb/>
&#x017F;ind es nicht allein Zufa&#x0364;lle, Landplagen, Verherungen,<lb/>
die &#x017F;ie wiederum zuru&#x0364;ck&#x017F;etzen und zer&#x017F;to&#x0364;ren ko&#x0364;nnen; es<lb/>
i&#x017F;t genug um &#x017F;ie unwirk&#x017F;am zu machen, daß ihr der Gei&#x017F;t<lb/>
entzogen werde, der anfangs in den An&#x017F;talten wirkte.<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">D d d 2</fw><fw place="bottom" type="catch">Alle</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[787/0817] und Entwickelung des Menſchen. was er iſt, naͤmlich ein thieriſches, obgleich ein vernuͤnfti- ges Weſen, und in einer Welt wie dieſe, die ihm we- der ſeinen Unterhalt, noch die Mittel zur hoͤhern Ent- wickelung giebt, ohne koͤrperliche Arbeit: ſo lange wird auch der Theil ſeines Wohls, der durch ſinnliche und thieriſche Kraͤfte beſchaffet werden muß, zu demjenigen, wozu hoͤhere ſelbſtthaͤtige Geiſtesvermoͤgen gehoͤren, ſich ſo verhalten, daß es zum Beſten des Ganzen immer nothwendig bleibet, daß jener mehrere ſind, daß ſie oͤf- terer und ſtaͤrkerer wirken, und daß alſo die Veranlaſſun- gen ſie zu entwickeln haͤufiger vorhanden ſind, als in Hin- ſicht der letztern. Es koͤnnte im Ganzen wohl des gei- ſtigen Weſens zu viel werden. Zum Gluͤck iſt dieß nun eben nicht leicht zu beſorgen; und gewiß nimmer- mehr ſo ſehr, daß die auf Aufklaͤrung der Vernunft und Verbreitung der Tugend abzielenden Beſtrebungen der Rechtſchaffenen uͤberfluͤßig werden koͤnnten. Wenn man mit dieſer natuͤrlichen Ungleichheit der Menſchen verbindet, daß jedes Jndividuum ſeine Ver- vollkommnung von derſelbigen niedrigſten Stufe anfan- gen muß: ſo zeiget ſich eine unangenehme Ausſicht, welche die Hoffnung auf eine allgemeine Aufklaͤrung der Menſchheit verdunkelt. Hierzu kommt noch mehr, wenn man auf die Mittel ſelbſt ſieht, wodurch jene erhalten werden ſoll. Die Vervollkommnungsmittel moͤgen einmal alle zur Anwendung gebracht ſeyn: ſo iſt es auch noͤthig, daß ſie immerfort in derſelbigen Staͤrke, und in derſel- bigen Richtung auf ihren Zweck erhalten werden. Son- ſten verlieren ſie ihre Wirkſamkeit gar bald. Jſt z. B. die Erziehung in einer Generation gut eingerichtet, ſo ſind es nicht allein Zufaͤlle, Landplagen, Verherungen, die ſie wiederum zuruͤckſetzen und zerſtoͤren koͤnnen; es iſt genug um ſie unwirkſam zu machen, daß ihr der Geiſt entzogen werde, der anfangs in den Anſtalten wirkte. Alle D d d 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/817
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 787. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/817>, abgerufen am 24.11.2024.