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Thieß, Johann Otto: Unser Herr! in den lezten Tagen seines ersten und in den ersten Tagen seines andern Menschenlebens. Neue Aufl. Hannover, 1794.

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Unser Herr
verbrecher, nach dem Gesezze, verurtheilen,
und ihm sonach auch Todesstrafe zuerkennen:
allein dies Urtheil durfte doch nicht von ihm,
nicht ohne die Bestätigung des römischen Statt-
halters, vollzogen werden. Dieser war es
eigentlich, der das Todesurtheil fällte, die Ober-
priester gaben nur ihr gerichtliches Gut-
achten bei ihm ein, und ersuchten ihn, dem bei
ihnen eingeklagten, Verbrecher die gesezmäßige
Strafe zu ertheilen. Von dem Statthalter,
der sich ohnehin in einer mislichen Lage befand,
war es freilich staatsklug gehandelt, sich nach den
Foderungen der Priester in solchen Fällen zu
bequemen, um so mehr, ie gewisser er war, daß
nicht nur sie, sondern auch alle Juden schon dieser
Anträge, die für ihren, zumal geistlichen, Hoch-
muth sehr empfindlich waren, gern überhoben
gewesen wären.

Der Widerwille, mit dem sie einen solchen
Antrag thaten, war wohl bei ihnen nie stärker
gewesen, als wie sie nun Jesum dem römischen
Statthalter, Pontius Pilatus, vorstellen, und
das zur Hauptanklage machen mußten, er habe
sich für Christum, den Messias, ausgegeben,
da sie doch auf dessen würkliche Ankunft selbst izt
warteten, sich von ihm die Wiederaufrichtung
ihres gesunkenen Staats und die höchste Aus-
breitung der, dann erhaltnen, Macht desselben
versprachen, und mit solchen Vorstellungen, wozu
sie die Gründe in ihren heiligen Büchern aufsuch-
ten, sich und das Volk, wegen der zeitherigen
lästigen Uebermacht der Römer, heimlich tröste-
ten. Betrachtet man die Sache aus diesem

Ge-

Unſer Herr
verbrecher, nach dem Geſezze, verurtheilen,
und ihm ſonach auch Todesſtrafe zuerkennen:
allein dies Urtheil durfte doch nicht von ihm,
nicht ohne die Beſtätigung des römiſchen Statt-
halters, vollzogen werden. Dieſer war es
eigentlich, der das Todesurtheil fällte, die Ober-
prieſter gaben nur ihr gerichtliches Gut-
achten bei ihm ein, und erſuchten ihn, dem bei
ihnen eingeklagten, Verbrecher die geſezmäßige
Strafe zu ertheilen. Von dem Statthalter,
der ſich ohnehin in einer mislichen Lage befand,
war es freilich ſtaatsklug gehandelt, ſich nach den
Foderungen der Prieſter in ſolchen Fällen zu
bequemen, um ſo mehr, ie gewiſſer er war, daß
nicht nur ſie, ſondern auch alle Juden ſchon dieſer
Anträge, die für ihren, zumal geiſtlichen, Hoch-
muth ſehr empfindlich waren, gern überhoben
geweſen wären.

Der Widerwille, mit dem ſie einen ſolchen
Antrag thaten, war wohl bei ihnen nie ſtärker
geweſen, als wie ſie nun Jeſum dem römiſchen
Statthalter, Pontius Pilatus, vorſtellen, und
das zur Hauptanklage machen mußten, er habe
ſich für Chriſtum, den Meſſias, ausgegeben,
da ſie doch auf deſſen würkliche Ankunft ſelbſt izt
warteten, ſich von ihm die Wiederaufrichtung
ihres geſunkenen Staats und die höchſte Aus-
breitung der, dann erhaltnen, Macht deſſelben
verſprachen, und mit ſolchen Vorſtellungen, wozu
ſie die Gründe in ihren heiligen Büchern aufſuch-
ten, ſich und das Volk, wegen der zeitherigen
läſtigen Uebermacht der Römer, heimlich tröſte-
ten. Betrachtet man die Sache aus dieſem

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[88/0102] Unſer Herr verbrecher, nach dem Geſezze, verurtheilen, und ihm ſonach auch Todesſtrafe zuerkennen: allein dies Urtheil durfte doch nicht von ihm, nicht ohne die Beſtätigung des römiſchen Statt- halters, vollzogen werden. Dieſer war es eigentlich, der das Todesurtheil fällte, die Ober- prieſter gaben nur ihr gerichtliches Gut- achten bei ihm ein, und erſuchten ihn, dem bei ihnen eingeklagten, Verbrecher die geſezmäßige Strafe zu ertheilen. Von dem Statthalter, der ſich ohnehin in einer mislichen Lage befand, war es freilich ſtaatsklug gehandelt, ſich nach den Foderungen der Prieſter in ſolchen Fällen zu bequemen, um ſo mehr, ie gewiſſer er war, daß nicht nur ſie, ſondern auch alle Juden ſchon dieſer Anträge, die für ihren, zumal geiſtlichen, Hoch- muth ſehr empfindlich waren, gern überhoben geweſen wären. Der Widerwille, mit dem ſie einen ſolchen Antrag thaten, war wohl bei ihnen nie ſtärker geweſen, als wie ſie nun Jeſum dem römiſchen Statthalter, Pontius Pilatus, vorſtellen, und das zur Hauptanklage machen mußten, er habe ſich für Chriſtum, den Meſſias, ausgegeben, da ſie doch auf deſſen würkliche Ankunft ſelbſt izt warteten, ſich von ihm die Wiederaufrichtung ihres geſunkenen Staats und die höchſte Aus- breitung der, dann erhaltnen, Macht deſſelben verſprachen, und mit ſolchen Vorſtellungen, wozu ſie die Gründe in ihren heiligen Büchern aufſuch- ten, ſich und das Volk, wegen der zeitherigen läſtigen Uebermacht der Römer, heimlich tröſte- ten. Betrachtet man die Sache aus dieſem Ge-

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Zitationshilfe: Thieß, Johann Otto: Unser Herr! in den lezten Tagen seines ersten und in den ersten Tagen seines andern Menschenlebens. Neue Aufl. Hannover, 1794, S. 88. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/thiess_andachtsbuch_1794/102>, abgerufen am 22.11.2024.