Thieß, Johann Otto: Unser Herr! in den lezten Tagen seines ersten und in den ersten Tagen seines andern Menschenlebens. Neue Aufl. Hannover, 1794.vor Pilatus Richterstuhl. Gesichtspunkte: so wird man, wenn man nundagegen das Verfahren des Pilatus hält, eher Ursach haben, sich über die Standhaftigkeit dieses Mannes zu wundern, womit er sich dem blutdürstigen Verlangen der, im Ingrimm über Jesum auf ihn einstürmenden, Priester und des, durch sie geleiteten, Volks widersezte, als den Wankelmuth und die Furchtsamkeit anzukla- gen, womit er zulezt in die Verurtheilung Jesu einwilligte. So viel ist indessen auch gewis, daß der Hohn, mit dem Pilatus die, so ernst- lich gemeinte, Klage der hohen Geistlichkeit wider Jesum aufnahm, und von der Hand wieß, sie, die das Bittre seines Spottes tief empfanden, noch mehr aufbrachte, und ihren Haß wider Jesum vermehrte. Es war das vielleicht eine Art von Gegenwehr, wozu er als Kömer und als Weltweiser, der er mir immer zu sein scheint, leicht geneigt sein konnte, aber deren er sich doch als Richter nicht hätte bedienen sollen. Mit dem vollen Anbruch des Tags erneuerten stärk- F 5
vor Pilatus Richterſtuhl. Geſichtspunkte: ſo wird man, wenn man nundagegen das Verfahren des Pilatus hält, eher Urſach haben, ſich über die Standhaftigkeit dieſes Mannes zu wundern, womit er ſich dem blutdürſtigen Verlangen der, im Ingrimm über Jeſum auf ihn einſtürmenden, Prieſter und des, durch ſie geleiteten, Volks widerſezte, als den Wankelmuth und die Furchtſamkeit anzukla- gen, womit er zulezt in die Verurtheilung Jeſu einwilligte. So viel iſt indeſſen auch gewis, daß der Hohn, mit dem Pilatus die, ſo ernſt- lich gemeinte, Klage der hohen Geiſtlichkeit wider Jeſum aufnahm, und von der Hand wieß, ſie, die das Bittre ſeines Spottes tief empfanden, noch mehr aufbrachte, und ihren Haß wider Jeſum vermehrte. Es war das vielleicht eine Art von Gegenwehr, wozu er als Kömer und als Weltweiſer, der er mir immer zu ſein ſcheint, leicht geneigt ſein konnte, aber deren er ſich doch als Richter nicht hätte bedienen ſollen. Mit dem vollen Anbruch des Tags erneuerten ſtärk- F 5
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0103" n="89"/><fw place="top" type="header">vor Pilatus Richterſtuhl.</fw><lb/> Geſichtspunkte: ſo wird man, wenn man nun<lb/> dagegen das Verfahren des Pilatus hält, eher<lb/> Urſach haben, ſich über die <hi rendition="#fr">Standhaftigkeit</hi><lb/> dieſes Mannes zu wundern, womit er ſich dem<lb/> blutdürſtigen Verlangen der, im Ingrimm über<lb/> Jeſum auf ihn einſtürmenden, Prieſter und des,<lb/> durch ſie geleiteten, Volks <hi rendition="#fr">widerſezte,</hi> als den<lb/><hi rendition="#fr">Wankelmuth</hi> und die <hi rendition="#fr">Furchtſamkeit</hi> anzukla-<lb/> gen, womit er zulezt in die Verurtheilung Jeſu<lb/><hi rendition="#fr">einwilligte.</hi> So viel iſt indeſſen auch gewis,<lb/> daß der <hi rendition="#fr">Hohn,</hi> mit dem Pilatus die, ſo ernſt-<lb/> lich gemeinte, Klage der hohen Geiſtlichkeit wider<lb/> Jeſum aufnahm, und von der Hand wieß, ſie,<lb/> die das <hi rendition="#fr">Bittre</hi> ſeines Spottes tief empfanden,<lb/> noch mehr aufbrachte, und ihren <hi rendition="#fr">Haß wider<lb/> Jeſum</hi> vermehrte. Es war das vielleicht eine<lb/> Art von Gegenwehr, wozu er als <hi rendition="#fr">Kömer</hi> und<lb/> als <hi rendition="#fr">Weltweiſer,</hi> der er mir immer zu ſein<lb/> ſcheint, leicht geneigt ſein konnte, aber deren er<lb/> ſich doch als <hi rendition="#fr">Richter</hi> nicht hätte bedienen ſollen.</p><lb/> <p>Mit dem vollen Anbruch des Tags erneuerten<lb/> nun die Oberprieſter und Volksälteſten den, ſchon<lb/> in der Nacht gefaßten, Schluß, Jeſum, es koſte,<lb/> was es wolle, ums Leben zu bringen, und ſo<lb/> übergaben ſie ihn denn gebunden an den weltlichen<lb/> Oberrichter, Pilatus, damit er den Ausſpruch<lb/> ihres geiſtlichen Gerichts beſtätigen, und das<lb/> Todesurtheil an ihm vollziehen laſſen mögte.<lb/> So mordluſtig ſie auch waren: ſo begaben ſie<lb/> ſich doch nicht in den Gerichtsſaal des Pilatus,<lb/> denn ihre Scheinheiligkeit war wenigſtens eben ſo<lb/> gros, wie ihre Mordluſt. Pilatus, zwar ihr<lb/> Vorgeſezter, deſſen Gerichtsbarkeit ſie izt am<lb/> <fw place="bottom" type="sig">F 5</fw><fw place="bottom" type="catch">ſtärk-</fw><lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [89/0103]
vor Pilatus Richterſtuhl.
Geſichtspunkte: ſo wird man, wenn man nun
dagegen das Verfahren des Pilatus hält, eher
Urſach haben, ſich über die Standhaftigkeit
dieſes Mannes zu wundern, womit er ſich dem
blutdürſtigen Verlangen der, im Ingrimm über
Jeſum auf ihn einſtürmenden, Prieſter und des,
durch ſie geleiteten, Volks widerſezte, als den
Wankelmuth und die Furchtſamkeit anzukla-
gen, womit er zulezt in die Verurtheilung Jeſu
einwilligte. So viel iſt indeſſen auch gewis,
daß der Hohn, mit dem Pilatus die, ſo ernſt-
lich gemeinte, Klage der hohen Geiſtlichkeit wider
Jeſum aufnahm, und von der Hand wieß, ſie,
die das Bittre ſeines Spottes tief empfanden,
noch mehr aufbrachte, und ihren Haß wider
Jeſum vermehrte. Es war das vielleicht eine
Art von Gegenwehr, wozu er als Kömer und
als Weltweiſer, der er mir immer zu ſein
ſcheint, leicht geneigt ſein konnte, aber deren er
ſich doch als Richter nicht hätte bedienen ſollen.
Mit dem vollen Anbruch des Tags erneuerten
nun die Oberprieſter und Volksälteſten den, ſchon
in der Nacht gefaßten, Schluß, Jeſum, es koſte,
was es wolle, ums Leben zu bringen, und ſo
übergaben ſie ihn denn gebunden an den weltlichen
Oberrichter, Pilatus, damit er den Ausſpruch
ihres geiſtlichen Gerichts beſtätigen, und das
Todesurtheil an ihm vollziehen laſſen mögte.
So mordluſtig ſie auch waren: ſo begaben ſie
ſich doch nicht in den Gerichtsſaal des Pilatus,
denn ihre Scheinheiligkeit war wenigſtens eben ſo
gros, wie ihre Mordluſt. Pilatus, zwar ihr
Vorgeſezter, deſſen Gerichtsbarkeit ſie izt am
ſtärk-
F 5
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang:
Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Linda Kirsten, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern:
Aufbau eines Korpus historischer Erbauungsschriften zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW): Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |