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Thieß, Johann Otto: Unser Herr! in den lezten Tagen seines ersten und in den ersten Tagen seines andern Menschenlebens. Neue Aufl. Hannover, 1794.

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Unser Herr in der lezten Abendgesellschaft
Geberde, ich mags nicht hören, mit welchem Laut,
ich mags nicht wissen, mit welchen, eilenden oder
zaudernden, Schritten -- sich hinwegbegeben hat --
ich mags nicht denken wohin -- so frohlokt Jesus
über sich, wie er über den Judas gewehklagt
hatte. Tief hatt er gewehklagt: aber höher
frohlokt er. Die Jünger -- sehn nicht dem
Judas nach, sondern nur Jesum an, staunend und
schweigend. Er richtet sich empor, so, als woll
er izt mit einemmale das Messiasreich aufrichten,
worauf die Kleingläubigen so lange gehoft hatten,
macht eine Bewegung mit der Hand, so als woll
er izt die wunderbarste aller seiner Wunderthaten
verrichten, und -- ergreift blos das, vor ihm
liegende, Brod. Das faßt er, so, als hab er
Himmel und Hölle auf die Wagschale gelegt,
und -- nachdem ers mit einem stillen Dankgebet
gesegnet hatte, wie erpflegte: thut er weder das
Ungewöhnlichste noch auch das Gebräuchlichste;
er vermehrt es nicht, wie in der Wüste; er
vermindert es auch nicht gleich durchs Umthei-
len an die Jünger, sondern er -- bricht es,
ganz mitten von einander, theilt dies Ge-
brochne
an seine Jünger aus; und sagt zu den
Schweigenden: "das nehmt, das eßt, das ist
"mein Leib!" Konnten sie, die so geschwiegen
hatten, die Jesum izt so reden hörten, so handeln
und so leiden sahn, konnten sie laut werden in
Fragen der Neugierde, konnten sie mit so beweg-
tem, so erschüttertem, so in ihnen brennendem Her-
zen an ein ruhiges, vestes, kaltes Grübeln gehn,
an eine Ausdeutung dieser Worte Jesu, deren

Sinn

Unſer Herr in der lezten Abendgeſellſchaft
Geberde, ich mags nicht hören, mit welchem Laut,
ich mags nicht wiſſen, mit welchen, eilenden oder
zaudernden, Schritten — ſich hinwegbegeben hat —
ich mags nicht denken wohin — ſo frohlokt Jeſus
über ſich, wie er über den Judas gewehklagt
hatte. Tief hatt er gewehklagt: aber höher
frohlokt er. Die Jünger — ſehn nicht dem
Judas nach, ſondern nur Jeſum an, ſtaunend und
ſchweigend. Er richtet ſich empor, ſo, als woll
er izt mit einemmale das Meſſiasreich aufrichten,
worauf die Kleingläubigen ſo lange gehoft hatten,
macht eine Bewegung mit der Hand, ſo als woll
er izt die wunderbarſte aller ſeiner Wunderthaten
verrichten, und — ergreift blos das, vor ihm
liegende, Brod. Das faßt er, ſo, als hab er
Himmel und Hölle auf die Wagſchale gelegt,
und — nachdem ers mit einem ſtillen Dankgebet
geſegnet hatte, wie erpflegte: thut er weder das
Ungewöhnlichſte noch auch das Gebräuchlichſte;
er vermehrt es nicht, wie in der Wüſte; er
vermindert es auch nicht gleich durchs Umthei-
len an die Jünger, ſondern er — bricht es,
ganz mitten von einander, theilt dies Ge-
brochne
an ſeine Jünger aus; und ſagt zu den
Schweigenden: “das nehmt, das eßt, das iſt
“mein Leib!” Konnten ſie, die ſo geſchwiegen
hatten, die Jeſum izt ſo reden hörten, ſo handeln
und ſo leiden ſahn, konnten ſie laut werden in
Fragen der Neugierde, konnten ſie mit ſo beweg-
tem, ſo erſchüttertem, ſo in ihnen brennendem Her-
zen an ein ruhiges, veſtes, kaltes Grübeln gehn,
an eine Ausdeutung dieſer Worte Jeſu, deren

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[30/0044] Unſer Herr in der lezten Abendgeſellſchaft Geberde, ich mags nicht hören, mit welchem Laut, ich mags nicht wiſſen, mit welchen, eilenden oder zaudernden, Schritten — ſich hinwegbegeben hat — ich mags nicht denken wohin — ſo frohlokt Jeſus über ſich, wie er über den Judas gewehklagt hatte. Tief hatt er gewehklagt: aber höher frohlokt er. Die Jünger — ſehn nicht dem Judas nach, ſondern nur Jeſum an, ſtaunend und ſchweigend. Er richtet ſich empor, ſo, als woll er izt mit einemmale das Meſſiasreich aufrichten, worauf die Kleingläubigen ſo lange gehoft hatten, macht eine Bewegung mit der Hand, ſo als woll er izt die wunderbarſte aller ſeiner Wunderthaten verrichten, und — ergreift blos das, vor ihm liegende, Brod. Das faßt er, ſo, als hab er Himmel und Hölle auf die Wagſchale gelegt, und — nachdem ers mit einem ſtillen Dankgebet geſegnet hatte, wie erpflegte: thut er weder das Ungewöhnlichſte noch auch das Gebräuchlichſte; er vermehrt es nicht, wie in der Wüſte; er vermindert es auch nicht gleich durchs Umthei- len an die Jünger, ſondern er — bricht es, ganz mitten von einander, theilt dies Ge- brochne an ſeine Jünger aus; und ſagt zu den Schweigenden: “das nehmt, das eßt, das iſt “mein Leib!” Konnten ſie, die ſo geſchwiegen hatten, die Jeſum izt ſo reden hörten, ſo handeln und ſo leiden ſahn, konnten ſie laut werden in Fragen der Neugierde, konnten ſie mit ſo beweg- tem, ſo erſchüttertem, ſo in ihnen brennendem Her- zen an ein ruhiges, veſtes, kaltes Grübeln gehn, an eine Ausdeutung dieſer Worte Jeſu, deren Sinn

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Zitationshilfe: Thieß, Johann Otto: Unser Herr! in den lezten Tagen seines ersten und in den ersten Tagen seines andern Menschenlebens. Neue Aufl. Hannover, 1794, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/thiess_andachtsbuch_1794/44>, abgerufen am 21.11.2024.