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Thieß, Johann Otto: Unser Herr! in den lezten Tagen seines ersten und in den ersten Tagen seines andern Menschenlebens. Neue Aufl. Hannover, 1794.

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in der Selenangst am Oelberge.
des schreklichsten Todes starb, so gewis mußt
er auch die schreklichste Todesfurcht haben,
und das Versöhnende, was in ienem liegt, mußte
auch in diese einfliessen. Der Einwurf sagt also
nichts, daß auf die Art Stephanus und andre
Mättyrer weit mehr Heldenmuth bewiesen hät-
ten. War denn das Leiden Jesu das Leiden eines
Märtyrers? Durft er als Held in den Tod
gehn, da er sein Leben zum Opfer, zum Opfer
für die Sünde darbringen sollte? Und wie wär
sein Leiden ganz stellvertretend, ganz voll-
gültig,
und genugthuend gewesen, wenn er
nicht auch das bange Vorgefühl desselben, wenn
er nicht auch Furcht vor dem Tode, als eins
der empflndlichsten Leiden, im äussersten
Grad
dieser Empfindung, gehabt hätte? Todes-
furcht
mußt er also auch haben, weil dies demü-
thigende und peinigende Gefühl einmal in der
geschwächten, verderbten Menschennatur ist.
Könnt Einer von uns, oder, welches im Grunde
nichts mehr sagt, könnten wir alle auftreten, und,
ohne Widerspruch einer geheimen Empfindung,
sagen: wir fürchteten den Tod nicht, nicht beim
Sterbebette der Unsrigen, nicht auf unserm eignen
Krankenlager: so würd' Er, unser Mittler, nicht
haben zagen müssen, nicht haben zittern können;
so würde der Kelch, vor dem er im kalten Schau-
der zurükfuhr, gewis vor ihm vorüber gegangen
sein.

Er ist nicht vor dir vorüber gegangen, mein Heiland!
wie du, der du alles vollbringen wolltest, das auch
nicht verlangtest. Er wird auch vor mir nicht ganz

vor-

in der Selenangſt am Oelberge.
des ſchreklichſten Todes ſtarb, ſo gewis mußt
er auch die ſchreklichſte Todesfurcht haben,
und das Verſöhnende, was in ienem liegt, mußte
auch in dieſe einflieſſen. Der Einwurf ſagt alſo
nichts, daß auf die Art Stephanus und andre
Mättyrer weit mehr Heldenmuth bewieſen hät-
ten. War denn das Leiden Jeſu das Leiden eines
Märtyrers? Durft er als Held in den Tod
gehn, da er ſein Leben zum Opfer, zum Opfer
für die Sünde darbringen ſollte? Und wie wär
ſein Leiden ganz ſtellvertretend, ganz voll-
gültig,
und genugthuend geweſen, wenn er
nicht auch das bange Vorgefühl deſſelben, wenn
er nicht auch Furcht vor dem Tode, als eins
der empflndlichſten Leiden, im äuſſerſten
Grad
dieſer Empfindung, gehabt hätte? Todes-
furcht
mußt er alſo auch haben, weil dies demü-
thigende und peinigende Gefühl einmal in der
geſchwächten, verderbten Menſchennatur iſt.
Könnt Einer von uns, oder, welches im Grunde
nichts mehr ſagt, könnten wir alle auftreten, und,
ohne Widerſpruch einer geheimen Empfindung,
ſagen: wir fürchteten den Tod nicht, nicht beim
Sterbebette der Unſrigen, nicht auf unſerm eignen
Krankenlager: ſo würd’ Er, unſer Mittler, nicht
haben zagen müſſen, nicht haben zittern können;
ſo würde der Kelch, vor dem er im kalten Schau-
der zurükfuhr, gewis vor ihm vorüber gegangen
ſein.

Er iſt nicht vor dir vorüber gegangen, mein Heiland!
wie du, der du alles vollbringen wollteſt, das auch
nicht verlangteſt. Er wird auch vor mir nicht ganz

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[47/0061] in der Selenangſt am Oelberge. des ſchreklichſten Todes ſtarb, ſo gewis mußt er auch die ſchreklichſte Todesfurcht haben, und das Verſöhnende, was in ienem liegt, mußte auch in dieſe einflieſſen. Der Einwurf ſagt alſo nichts, daß auf die Art Stephanus und andre Mättyrer weit mehr Heldenmuth bewieſen hät- ten. War denn das Leiden Jeſu das Leiden eines Märtyrers? Durft er als Held in den Tod gehn, da er ſein Leben zum Opfer, zum Opfer für die Sünde darbringen ſollte? Und wie wär ſein Leiden ganz ſtellvertretend, ganz voll- gültig, und genugthuend geweſen, wenn er nicht auch das bange Vorgefühl deſſelben, wenn er nicht auch Furcht vor dem Tode, als eins der empflndlichſten Leiden, im äuſſerſten Grad dieſer Empfindung, gehabt hätte? Todes- furcht mußt er alſo auch haben, weil dies demü- thigende und peinigende Gefühl einmal in der geſchwächten, verderbten Menſchennatur iſt. Könnt Einer von uns, oder, welches im Grunde nichts mehr ſagt, könnten wir alle auftreten, und, ohne Widerſpruch einer geheimen Empfindung, ſagen: wir fürchteten den Tod nicht, nicht beim Sterbebette der Unſrigen, nicht auf unſerm eignen Krankenlager: ſo würd’ Er, unſer Mittler, nicht haben zagen müſſen, nicht haben zittern können; ſo würde der Kelch, vor dem er im kalten Schau- der zurükfuhr, gewis vor ihm vorüber gegangen ſein. Er iſt nicht vor dir vorüber gegangen, mein Heiland! wie du, der du alles vollbringen wollteſt, das auch nicht verlangteſt. Er wird auch vor mir nicht ganz vor-

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Zitationshilfe: Thieß, Johann Otto: Unser Herr! in den lezten Tagen seines ersten und in den ersten Tagen seines andern Menschenlebens. Neue Aufl. Hannover, 1794, S. 47. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/thiess_andachtsbuch_1794/61>, abgerufen am 24.11.2024.