Thomasius, Christian: Von der Kunst Vernünfftig und Tugendhafft zu lieben. Halle (Saale), 1692.Das 6. Hauptst. von der absonderlichen sich freuet/ daß er der geliebten Peson einen Ge-fallen erwiesen. Und weil er dieses Vergnügen höher achtet/ als alles auff der Welt/ so achtet er auch alle seine Mühe und alle sein Vermögen für nichts dasselbe zu erkauffen. Ja weil er in der geliebten Person mehr als in sich selbst lebet/ so waget er auch sein Leben willig und gerne/ wenn er nur eine wahrscheinliche auch geringe Hoffnung hat/ dadurch das Leben seines Freun- des zu erretten. Ja er wagete tausend Leben für seinen Freund/ wenn er solches hätte: Siehet er aber daß solches allerdings zu retten unmöglich sey/ so erhält er sein Leben/ und stellet sich über den Tod seines Freundes nicht ungeberdig/ weil er ihm dadurch nichts helffen kan/ sondern viel- mehr dadurch seine Hülffe andern/ die seiner Lie- be benöthiget sind/ entziehen würde. 69. Dieweil auch die wahren Gutthaten auf 70. Je-
Das 6. Hauptſt. von der abſonderlichen ſich freuet/ daß er der geliebten Peſon einen Ge-fallen erwieſen. Und weil er dieſes Vergnuͤgen hoͤher achtet/ als alles auff der Welt/ ſo achtet er auch alle ſeine Muͤhe und alle ſein Vermoͤgen fuͤr nichts daſſelbe zu erkauffen. Ja weil er in der geliebten Perſon mehr als in ſich ſelbſt lebet/ ſo waget er auch ſein Leben willig und gerne/ wenn er nur eine wahrſcheinliche auch geringe Hoffnung hat/ dadurch das Leben ſeines Freun- des zu erretten. Ja er wagete tauſend Leben fuͤr ſeinen Freund/ wenn er ſolches haͤtte: Siehet er aber daß ſolches allerdings zu retten unmoͤglich ſey/ ſo erhaͤlt er ſein Leben/ und ſtellet ſich uͤber den Tod ſeines Freundes nicht ungeberdig/ weil er ihm dadurch nichts helffen kan/ ſondern viel- mehr dadurch ſeine Huͤlffe andern/ die ſeiner Lie- be benoͤthiget ſind/ entziehen wuͤrde. 69. Dieweil auch die wahren Gutthaten auf 70. Je-
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Das 6. Hauptſt. von der abſonderlichen
ſich freuet/ daß er der geliebten Peſon einen Ge-
fallen erwieſen. Und weil er dieſes Vergnuͤgen
hoͤher achtet/ als alles auff der Welt/ ſo achtet er
auch alle ſeine Muͤhe und alle ſein Vermoͤgen fuͤr
nichts daſſelbe zu erkauffen. Ja weil er in der
geliebten Perſon mehr als in ſich ſelbſt lebet/ ſo
waget er auch ſein Leben willig und gerne/
wenn er nur eine wahrſcheinliche auch geringe
Hoffnung hat/ dadurch das Leben ſeines Freun-
des zu erretten. Ja er wagete tauſend Leben fuͤr
ſeinen Freund/ wenn er ſolches haͤtte: Siehet er
aber daß ſolches allerdings zu retten unmoͤglich
ſey/ ſo erhaͤlt er ſein Leben/ und ſtellet ſich uͤber
den Tod ſeines Freundes nicht ungeberdig/ weil
er ihm dadurch nichts helffen kan/ ſondern viel-
mehr dadurch ſeine Huͤlffe andern/ die ſeiner Lie-
be benoͤthiget ſind/ entziehen wuͤrde.
69. Dieweil auch die wahren Gutthaten auf
desjenigen/ ſo ſie erlanget/ ſein Vergnuͤgen zie-
len/ ſo iſt die vernuͤnfftige Liebe beſorget/ hierbey
ſolche Dinge zu erkieſen/ die dem geliebten gefal-
len/ nicht ſolche/ an welche ſie fuͤr andeꝛn eine Be-
luſtigung zu finden pfleget. Sie dringet dem
geliebten die Gutthaten nicht wieder Willen
auff/ wenn er deren nicht benoͤthiget iſt/ ja ſie iſt
vergnuͤgter/ wenn der Geliebte in einen ſolchen
Zuſtande lebet/ daß er ihres Beyſtandes nicht
von noͤthen hat/ als ihn nur einen Augenblick in ei-
nem verdrießlichen Zuſtande zu ſehen/ daß er
nach ihrer Huͤlffe verlangen tragen muß.
70. Je-
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Zitationshilfe: | Thomasius, Christian: Von der Kunst Vernünfftig und Tugendhafft zu lieben. Halle (Saale), 1692, S. 292[288]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/thomasius_einleitungsittenlehre_1692/320>, abgerufen am 26.06.2024. |