Thomasius, Christian: Von der Kunst Vernünfftig und Tugendhafft zu lieben. Halle (Saale), 1692.Das 6. Hauptst. von der absonderlichen völlige Bezeugung/ daß nunmehro die vernünffti-ge Liebe ihre Vollkommenheit erlanget. Wenn man sich mit der sorgfältigen Gefälligkeit gleich- sam in den äussersten Vorgemach der vernünffti- gen Liebe/ darinnen jederman den Zugang hat/ eine Zeitlang auffgehalten/ und hernach vermit- telst der Gutthätigkeit in ihr anderes Zimmer/ da ihrer wenige nur ihren Zutritt haben/ eingegan- gen/ gelanget man endlich in das allervertrauteste Cabinet der Liebe/ wenn man durch eine Gutthat und Vertraulichkeit nach der andern Wechsels- weise die Hertzen so feste und unaufflößlich ver- knüfft hat/ daß aus Zweyen so zu sagen ein Hertz und eine Seele worden ist. Und also muß dem- nach in diesem Cabinet da die wahre Liebe ihren Thron hat/ alles Eigenthum auffhö- ren/ und alles gemein seyn/ weil ein jedwedes Eigenthum zum wenigsten zwey und zwar unterschiedene und nicht allzueinige Perso- nen nach seinen Wesen praesupponiret/ auch aus dem Mangel der Liebe und der Uneinig- keit entstanden ist. 83. Wir haben dieses anderswo weitläufftig Men-
Das 6. Hauptſt. von der abſonderlichen voͤllige Bezeugung/ daß nunmehro die vernuͤnffti-ge Liebe ihre Vollkommenheit erlanget. Wenn man ſich mit der ſorgfaͤltigen Gefaͤlligkeit gleich- ſam in den aͤuſſerſten Vorgemach der vernuͤnffti- gen Liebe/ darinnen jederman den Zugang hat/ eine Zeitlang auffgehalten/ und hernach vermit- telſt der Gutthaͤtigkeit in ihr anderes Zimmer/ da ihrer wenige nur ihren Zutritt haben/ eingegan- gen/ gelanget man endlich in das allervertrauteſte Cabinet der Liebe/ wenn man durch eine Gutthat und Vertraulichkeit nach der andern Wechſels- weiſe die Hertzen ſo feſte und unauffloͤßlich ver- knuͤfft hat/ daß aus Zweyen ſo zu ſagen ein Hertz und eine Seele worden iſt. Und alſo muß dem- nach in dieſem Cabinet da die wahre Liebe ihren Thron hat/ alles Eigenthum auffhoͤ- ren/ und alles gemein ſeyn/ weil ein jedwedes Eigenthum zum wenigſten zwey und zwar unterſchiedene und nicht allzueinige Perſo- nen nach ſeinen Weſen præſupponiret/ auch aus dem Mangel der Liebe und der Uneinig- keit entſtanden iſt. 83. Wir haben dieſes anderswo weitlaͤufftig Men-
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Das 6. Hauptſt. von der abſonderlichen
voͤllige Bezeugung/ daß nunmehro die vernuͤnffti-
ge Liebe ihre Vollkommenheit erlanget. Wenn
man ſich mit der ſorgfaͤltigen Gefaͤlligkeit gleich-
ſam in den aͤuſſerſten Vorgemach der vernuͤnffti-
gen Liebe/ darinnen jederman den Zugang hat/
eine Zeitlang auffgehalten/ und hernach vermit-
telſt der Gutthaͤtigkeit in ihr anderes Zimmer/ da
ihrer wenige nur ihren Zutritt haben/ eingegan-
gen/ gelanget man endlich in das allervertrauteſte
Cabinet der Liebe/ wenn man durch eine Gutthat
und Vertraulichkeit nach der andern Wechſels-
weiſe die Hertzen ſo feſte und unauffloͤßlich ver-
knuͤfft hat/ daß aus Zweyen ſo zu ſagen ein Hertz
und eine Seele worden iſt. Und alſo muß dem-
nach in dieſem Cabinet da die wahre Liebe
ihren Thron hat/ alles Eigenthum auffhoͤ-
ren/ und alles gemein ſeyn/ weil ein jedwedes
Eigenthum zum wenigſten zwey und zwar
unterſchiedene und nicht allzueinige Perſo-
nen nach ſeinen Weſen præſupponiret/ auch
aus dem Mangel der Liebe und der Uneinig-
keit entſtanden iſt.
83. Wir haben dieſes anderswo weitlaͤufftig
ausgefuͤhret/ da wir behauptet haben/ daß von
Anfang der Welt eine Gemeinſchafft der
Guͤter geweſen ſey/ und daß das Eigenthum al-
leine deshalben entſtanden/ weil das Band der
Liebe unter denen Menſchen zerriſſen/ und allein
in dieſer Betrachtung beſagte Gemeinſchafft fuͤr
den hierdurch allzuſehr verderbten Zuſtand der
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Zitationshilfe: | Thomasius, Christian: Von der Kunst Vernünfftig und Tugendhafft zu lieben. Halle (Saale), 1692, S. 300[296]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/thomasius_einleitungsittenlehre_1692/328>, abgerufen am 26.06.2024. |