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Tieck, Ludwig: Die Gemälde. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 2. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–123. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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Lüsternheit von sich zu weisen. Das wahre Schöne führt uns in keine Versuchung; das, was wir wirklich fürchten dürfen, erscheint nicht in Larve und Unform. Das Bestreben jenes alten Meisters läßt sich daher vor dem gebildeten Sinne rechtfertigen; nicht so Teniers und seines Gleichen.

Das Tolle, das Alberne und Abgeschmackte ist ein Unendliches, rief der Unbekannte: es ist es eben dadurch, daß es sich in keine Grenze fassen läßt, denn durch die Schranke wird alles Vernünftige: das Schöne, Edle, Freie, Kunst und Enthusiasmus. Weil sich aber etwas Ueberirdisches, Unaussprechliches beimischt, so meinen die Thoren, es sei das Unbedingte, und sündigen im angemaßten Mysticismus in Natur und Phantasie hinein. Sehen Sie diesen tollen Höllenbreughel hier am Pfeiler? Weil fein Auge gar keinen Blick mehr hatte für Wahrheit und Sinn, weil er sich ganz von der Natur lossagte, und Aberwitz und Unsinn ihm als Begeisterung und Verständniß galten, so ist er mir vom ganzen Heere der Fratzenmaler geradezu der liebste, da er ohne Weiteres die Thüre zuschlug und den Verstand draußen ließ. Sehn Sie den Riesensaal von Julio Romano in Mantua, seine wunderlichen Aufzüge mit Thieren und Centauren und allen Wundern der Fabel, feine Bacchanalien, seine kühne Vermischung des Menschlichen, Schönen, Thierischen und Frechen; vertiefen Sie sich in diese Studien; dann werden Sie erst wissen, was ein wirklicher Poet aus diesen sonderbaren und unver-

Lüsternheit von sich zu weisen. Das wahre Schöne führt uns in keine Versuchung; das, was wir wirklich fürchten dürfen, erscheint nicht in Larve und Unform. Das Bestreben jenes alten Meisters läßt sich daher vor dem gebildeten Sinne rechtfertigen; nicht so Teniers und seines Gleichen.

Das Tolle, das Alberne und Abgeschmackte ist ein Unendliches, rief der Unbekannte: es ist es eben dadurch, daß es sich in keine Grenze fassen läßt, denn durch die Schranke wird alles Vernünftige: das Schöne, Edle, Freie, Kunst und Enthusiasmus. Weil sich aber etwas Ueberirdisches, Unaussprechliches beimischt, so meinen die Thoren, es sei das Unbedingte, und sündigen im angemaßten Mysticismus in Natur und Phantasie hinein. Sehen Sie diesen tollen Höllenbreughel hier am Pfeiler? Weil fein Auge gar keinen Blick mehr hatte für Wahrheit und Sinn, weil er sich ganz von der Natur lossagte, und Aberwitz und Unsinn ihm als Begeisterung und Verständniß galten, so ist er mir vom ganzen Heere der Fratzenmaler geradezu der liebste, da er ohne Weiteres die Thüre zuschlug und den Verstand draußen ließ. Sehn Sie den Riesensaal von Julio Romano in Mantua, seine wunderlichen Aufzüge mit Thieren und Centauren und allen Wundern der Fabel, feine Bacchanalien, seine kühne Vermischung des Menschlichen, Schönen, Thierischen und Frechen; vertiefen Sie sich in diese Studien; dann werden Sie erst wissen, was ein wirklicher Poet aus diesen sonderbaren und unver-

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[0057] Lüsternheit von sich zu weisen. Das wahre Schöne führt uns in keine Versuchung; das, was wir wirklich fürchten dürfen, erscheint nicht in Larve und Unform. Das Bestreben jenes alten Meisters läßt sich daher vor dem gebildeten Sinne rechtfertigen; nicht so Teniers und seines Gleichen. Das Tolle, das Alberne und Abgeschmackte ist ein Unendliches, rief der Unbekannte: es ist es eben dadurch, daß es sich in keine Grenze fassen läßt, denn durch die Schranke wird alles Vernünftige: das Schöne, Edle, Freie, Kunst und Enthusiasmus. Weil sich aber etwas Ueberirdisches, Unaussprechliches beimischt, so meinen die Thoren, es sei das Unbedingte, und sündigen im angemaßten Mysticismus in Natur und Phantasie hinein. Sehen Sie diesen tollen Höllenbreughel hier am Pfeiler? Weil fein Auge gar keinen Blick mehr hatte für Wahrheit und Sinn, weil er sich ganz von der Natur lossagte, und Aberwitz und Unsinn ihm als Begeisterung und Verständniß galten, so ist er mir vom ganzen Heere der Fratzenmaler geradezu der liebste, da er ohne Weiteres die Thüre zuschlug und den Verstand draußen ließ. Sehn Sie den Riesensaal von Julio Romano in Mantua, seine wunderlichen Aufzüge mit Thieren und Centauren und allen Wundern der Fabel, feine Bacchanalien, seine kühne Vermischung des Menschlichen, Schönen, Thierischen und Frechen; vertiefen Sie sich in diese Studien; dann werden Sie erst wissen, was ein wirklicher Poet aus diesen sonderbaren und unver-

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T12:27:02Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-16T12:27:02Z)

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Die Gemälde. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 2. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–123. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_gemaelde_1910/57>, abgerufen am 19.05.2024.