Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 1. Berlin u. a., 1795.

Bild:
<< vorherige Seite

Ich gebe Dir recht, wenn Du behauptest,
dies sey nichts als eine übertriebene Reizbar-
keit der Empfindung, ein Gefühl, das im Grun-
de eine Art von Hypochondrie sey, -- aber die-
se Art zu fühlen hat mir von je so nahe gele-
gen und bemeistert sich itzt meiner zuweilen so
sehr, daß ich ihr nothwendig nachgeben muß.
Ich kann mir itzt einen Karakter recht lebhaft
denken, der alles traurig und melancholisch
empfindet, und fühle es innig, wie elend er
seyn muß. Dieser Gedanke und eine seltsame
Art von Schwärmerei haben mich fast auf der
ganzen Reise begleitet. Es war mir nehmlich
oft, als hätte ich eine Gegend oder eine Stadt
schon einmahl und zwar mit ganz andern Em-
pfindungen und unter ganz verschiedenen Um-
ständen gesehn; ich überließ mich dann dieser
närrischen Träumerei und suchte die Erinnerun-
gen dentlicher und haltbarer zu machen und mir
jene Gefühle zurückzurufen, die ich ehemals in
denselben Gegenden gehabt hätte. So reiht
sich dann ein Traum an den andern, ein Spiel-
werk der Phantasie drängt das andere und man
ist endlich ganz aus der Gegenwart herausgeris-

Ich gebe Dir recht, wenn Du behaupteſt,
dies ſey nichts als eine uͤbertriebene Reizbar-
keit der Empfindung, ein Gefuͤhl, das im Grun-
de eine Art von Hypochondrie ſey, — aber die-
ſe Art zu fuͤhlen hat mir von je ſo nahe gele-
gen und bemeiſtert ſich itzt meiner zuweilen ſo
ſehr, daß ich ihr nothwendig nachgeben muß.
Ich kann mir itzt einen Karakter recht lebhaft
denken, der alles traurig und melancholiſch
empfindet, und fuͤhle es innig, wie elend er
ſeyn muß. Dieſer Gedanke und eine ſeltſame
Art von Schwaͤrmerei haben mich faſt auf der
ganzen Reiſe begleitet. Es war mir nehmlich
oft, als haͤtte ich eine Gegend oder eine Stadt
ſchon einmahl und zwar mit ganz andern Em-
pfindungen und unter ganz verſchiedenen Um-
ſtaͤnden geſehn; ich uͤberließ mich dann dieſer
naͤrriſchen Traͤumerei und ſuchte die Erinnerun-
gen dentlicher und haltbarer zu machen und mir
jene Gefuͤhle zuruͤckzurufen, die ich ehemals in
denſelben Gegenden gehabt haͤtte. So reiht
ſich dann ein Traum an den andern, ein Spiel-
werk der Phantaſie draͤngt das andere und man
iſt endlich ganz aus der Gegenwart herausgeriſ-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0247" n="239[237]"/>
          <p>Ich gebe Dir recht, wenn Du behaupte&#x017F;t,<lb/>
dies &#x017F;ey nichts als eine u&#x0364;bertriebene Reizbar-<lb/>
keit der Empfindung, ein Gefu&#x0364;hl, das im Grun-<lb/>
de eine Art von Hypochondrie &#x017F;ey, &#x2014; aber die-<lb/>
&#x017F;e Art zu fu&#x0364;hlen hat mir von je &#x017F;o nahe gele-<lb/>
gen und bemei&#x017F;tert &#x017F;ich itzt meiner zuweilen &#x017F;o<lb/>
&#x017F;ehr, daß ich ihr nothwendig nachgeben muß.<lb/>
Ich kann mir itzt einen Karakter recht lebhaft<lb/>
denken, der <hi rendition="#g">alles</hi> traurig und melancholi&#x017F;ch<lb/>
empfindet, und fu&#x0364;hle es innig, wie elend er<lb/>
&#x017F;eyn muß. Die&#x017F;er Gedanke und eine &#x017F;elt&#x017F;ame<lb/>
Art von Schwa&#x0364;rmerei haben mich fa&#x017F;t auf der<lb/>
ganzen Rei&#x017F;e begleitet. Es war mir nehmlich<lb/>
oft, als ha&#x0364;tte ich eine Gegend oder eine Stadt<lb/>
&#x017F;chon einmahl und zwar mit ganz andern Em-<lb/>
pfindungen und unter ganz ver&#x017F;chiedenen Um-<lb/>
&#x017F;ta&#x0364;nden ge&#x017F;ehn; ich u&#x0364;berließ mich dann die&#x017F;er<lb/>
na&#x0364;rri&#x017F;chen Tra&#x0364;umerei und &#x017F;uchte die Erinnerun-<lb/>
gen dentlicher und haltbarer zu machen und mir<lb/>
jene Gefu&#x0364;hle zuru&#x0364;ckzurufen, die ich ehemals in<lb/>
den&#x017F;elben Gegenden gehabt ha&#x0364;tte. So reiht<lb/>
&#x017F;ich dann ein Traum an den andern, ein Spiel-<lb/>
werk der Phanta&#x017F;ie dra&#x0364;ngt das andere und man<lb/>
i&#x017F;t endlich ganz aus der Gegenwart herausgeri&#x017F;-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[239[237]/0247] Ich gebe Dir recht, wenn Du behaupteſt, dies ſey nichts als eine uͤbertriebene Reizbar- keit der Empfindung, ein Gefuͤhl, das im Grun- de eine Art von Hypochondrie ſey, — aber die- ſe Art zu fuͤhlen hat mir von je ſo nahe gele- gen und bemeiſtert ſich itzt meiner zuweilen ſo ſehr, daß ich ihr nothwendig nachgeben muß. Ich kann mir itzt einen Karakter recht lebhaft denken, der alles traurig und melancholiſch empfindet, und fuͤhle es innig, wie elend er ſeyn muß. Dieſer Gedanke und eine ſeltſame Art von Schwaͤrmerei haben mich faſt auf der ganzen Reiſe begleitet. Es war mir nehmlich oft, als haͤtte ich eine Gegend oder eine Stadt ſchon einmahl und zwar mit ganz andern Em- pfindungen und unter ganz verſchiedenen Um- ſtaͤnden geſehn; ich uͤberließ mich dann dieſer naͤrriſchen Traͤumerei und ſuchte die Erinnerun- gen dentlicher und haltbarer zu machen und mir jene Gefuͤhle zuruͤckzurufen, die ich ehemals in denſelben Gegenden gehabt haͤtte. So reiht ſich dann ein Traum an den andern, ein Spiel- werk der Phantaſie draͤngt das andere und man iſt endlich ganz aus der Gegenwart herausgeriſ-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell01_1795
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell01_1795/247
Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 1. Berlin u. a., 1795, S. 239[237]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell01_1795/247>, abgerufen am 16.05.2024.