Seitdem ich Ihren Brief erhalten habe, thut es mir mehr leid als je, daß ich mit dem me- lancholischen Balder hiehergereist bin: ich werde so schnell als möglich zurückkommen. Er wird mit jedem Tage finstrer und verschlossener, eine seltsame Art von Schwärmerei scheint seinen Geist in einer unaufhörlichen Spannung zu er- halten. Sie werden wissen, daß bei ihm die gewöhnlichen Zerstreuungen und Freuden des Lebens übel angebracht sind, sie dienen nur, sei- ner Laune einen noch finstrern Anstrich zu ge- ben. -- Ist es nicht kindisch, sich selbst und der ganzen Natur deswegen zu fluchen, weil nicht alles so ist, wie wir es mit unsern be- schränkten Sinnen fordern? -- Aber ich kenne auch die Reize, die diese Schwärmerei uns an- fangs gewährt; wir ahnden eine Vertraulichkeit mit Geistern, die uns entzückt, die Seele ba- det sich im reinsten Glanze des Aethers und ver-
20. Roſa an William Lovell.
Neapel.
Seitdem ich Ihren Brief erhalten habe, thut es mir mehr leid als je, daß ich mit dem me- lancholiſchen Balder hiehergereiſt bin: ich werde ſo ſchnell als moͤglich zuruͤckkommen. Er wird mit jedem Tage finſtrer und verſchloſſener, eine ſeltſame Art von Schwaͤrmerei ſcheint ſeinen Geiſt in einer unaufhoͤrlichen Spannung zu er- halten. Sie werden wiſſen, daß bei ihm die gewoͤhnlichen Zerſtreuungen und Freuden des Lebens uͤbel angebracht ſind, ſie dienen nur, ſei- ner Laune einen noch finſtrern Anſtrich zu ge- ben. — Iſt es nicht kindiſch, ſich ſelbſt und der ganzen Natur deswegen zu fluchen, weil nicht alles ſo iſt, wie wir es mit unſern be- ſchraͤnkten Sinnen fordern? — Aber ich kenne auch die Reize, die dieſe Schwaͤrmerei uns an- fangs gewaͤhrt; wir ahnden eine Vertraulichkeit mit Geiſtern, die uns entzuͤckt, die Seele ba- det ſich im reinſten Glanze des Aethers und ver-
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0307"n="299[297]"/><divn="2"><head>20.<lb/>
Roſa an William Lovell.</head><lb/><dateline><hirendition="#et">Neapel.</hi></dateline><lb/><p><hirendition="#in">S</hi>eitdem ich Ihren Brief <choice><sic>erbalten</sic><corr>erhalten</corr></choice> habe, thut<lb/>
es mir mehr leid als je, daß ich mit dem me-<lb/>
lancholiſchen Balder hiehergereiſt bin: ich werde<lb/>ſo ſchnell als moͤglich zuruͤckkommen. Er wird<lb/>
mit jedem Tage finſtrer und verſchloſſener, eine<lb/>ſeltſame Art von Schwaͤrmerei ſcheint ſeinen<lb/>
Geiſt in einer unaufhoͤrlichen Spannung zu er-<lb/>
halten. Sie werden wiſſen, daß bei ihm die<lb/>
gewoͤhnlichen Zerſtreuungen und Freuden des<lb/>
Lebens uͤbel angebracht ſind, ſie dienen nur, ſei-<lb/>
ner Laune einen noch finſtrern Anſtrich zu ge-<lb/>
ben. — Iſt es nicht kindiſch, ſich ſelbſt und<lb/>
der ganzen Natur deswegen zu fluchen, weil<lb/>
nicht alles ſo iſt, wie wir es mit unſern be-<lb/>ſchraͤnkten Sinnen fordern? — Aber ich kenne<lb/>
auch die Reize, die dieſe Schwaͤrmerei uns an-<lb/>
fangs gewaͤhrt; wir ahnden eine Vertraulichkeit<lb/>
mit Geiſtern, die uns entzuͤckt, die Seele ba-<lb/>
det ſich im reinſten Glanze des Aethers und ver-<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[299[297]/0307]
20.
Roſa an William Lovell.
Neapel.
Seitdem ich Ihren Brief erhalten habe, thut
es mir mehr leid als je, daß ich mit dem me-
lancholiſchen Balder hiehergereiſt bin: ich werde
ſo ſchnell als moͤglich zuruͤckkommen. Er wird
mit jedem Tage finſtrer und verſchloſſener, eine
ſeltſame Art von Schwaͤrmerei ſcheint ſeinen
Geiſt in einer unaufhoͤrlichen Spannung zu er-
halten. Sie werden wiſſen, daß bei ihm die
gewoͤhnlichen Zerſtreuungen und Freuden des
Lebens uͤbel angebracht ſind, ſie dienen nur, ſei-
ner Laune einen noch finſtrern Anſtrich zu ge-
ben. — Iſt es nicht kindiſch, ſich ſelbſt und
der ganzen Natur deswegen zu fluchen, weil
nicht alles ſo iſt, wie wir es mit unſern be-
ſchraͤnkten Sinnen fordern? — Aber ich kenne
auch die Reize, die dieſe Schwaͤrmerei uns an-
fangs gewaͤhrt; wir ahnden eine Vertraulichkeit
mit Geiſtern, die uns entzuͤckt, die Seele ba-
det ſich im reinſten Glanze des Aethers und ver-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 1. Berlin u. a., 1795, S. 299[297]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell01_1795/307>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.