Wie sehr haben Sie in Ihrem Briefe aus meinem Herzen gesprochen! -- Ach Freund, wie wenig Menschen verstehen es zu leben, sie ziehn an ihrem Daseyn wie an einer Kette, und zäh- len mühsam und gähnend die Ringe bis zum letzten. -- Wir, William, wollen an Blumen ziehen und auch noch bei der letzten lächeln und uns von ihrem Dufte erquicken lassen.
Mögen die Dinge außer mir seyn, wie sie wollen; ein buntes Gewühl wird mir vorüber- gezogen, ich greife mit dreister Hand hinein und behalte mir, was mir gefällt, ehe der glückliche Augenblick vorüber ist. --
Ja, Lovell, lassen Sie uns das Leben so ge- nießen, wie man die letzten schönen Tage des Herbstes genießt; keiner kömmt zurück, man darf keinem folgenden vertrauen. Ist der nicht ein Thor, der in seinem dunkeln Zimmer sitzen bleibt und Wahrscheinlichkeit und Mög- lichkeit berechnet? Der Sonnenschein spielt
25. Roſa an William Lovell.
Neapel.
Wie ſehr haben Sie in Ihrem Briefe aus meinem Herzen geſprochen! — Ach Freund, wie wenig Menſchen verſtehen es zu leben, ſie ziehn an ihrem Daſeyn wie an einer Kette, und zaͤh- len muͤhſam und gaͤhnend die Ringe bis zum letzten. — Wir, William, wollen an Blumen ziehen und auch noch bei der letzten laͤcheln und uns von ihrem Dufte erquicken laſſen.
Moͤgen die Dinge außer mir ſeyn, wie ſie wollen; ein buntes Gewuͤhl wird mir voruͤber- gezogen, ich greife mit dreiſter Hand hinein und behalte mir, was mir gefaͤllt, ehe der gluͤckliche Augenblick voruͤber iſt. —
Ja, Lovell, laſſen Sie uns das Leben ſo ge- nießen, wie man die letzten ſchoͤnen Tage des Herbſtes genießt; keiner koͤmmt zuruͤck, man darf keinem folgenden vertrauen. Iſt der nicht ein Thor, der in ſeinem dunkeln Zimmer ſitzen bleibt und Wahrſcheinlichkeit und Moͤg- lichkeit berechnet? Der Sonnenſchein ſpielt
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[316[314]/0324]
25.
Roſa an William Lovell.
Neapel.
Wie ſehr haben Sie in Ihrem Briefe aus
meinem Herzen geſprochen! — Ach Freund, wie
wenig Menſchen verſtehen es zu leben, ſie ziehn
an ihrem Daſeyn wie an einer Kette, und zaͤh-
len muͤhſam und gaͤhnend die Ringe bis zum
letzten. — Wir, William, wollen an Blumen
ziehen und auch noch bei der letzten laͤcheln
und uns von ihrem Dufte erquicken laſſen.
Moͤgen die Dinge außer mir ſeyn, wie ſie
wollen; ein buntes Gewuͤhl wird mir voruͤber-
gezogen, ich greife mit dreiſter Hand hinein und
behalte mir, was mir gefaͤllt, ehe der gluͤckliche
Augenblick voruͤber iſt. —
Ja, Lovell, laſſen Sie uns das Leben ſo ge-
nießen, wie man die letzten ſchoͤnen Tage des
Herbſtes genießt; keiner koͤmmt zuruͤck, man
darf keinem folgenden vertrauen. Iſt der nicht
ein Thor, der in ſeinem dunkeln Zimmer
ſitzen bleibt und Wahrſcheinlichkeit und Moͤg-
lichkeit berechnet? Der Sonnenſchein ſpielt
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Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 1. Berlin u. a., 1795, S. 316[314]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell01_1795/324>, abgerufen am 25.11.2024.
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