neue Welt hinein, und alles kam mir so schön und reizend vor, es schien mir das höchste Glück in dieser Hütte zu leben, und dem Saitenspiele des Mädchens zuzuhören, dem Geschwätze der Alten und den kleinen Grillen in den Wän- den. -- Das Mädchen stand auf, das Licht zu putzen, das heruntergebrennt war, und ich gieng scheu zurück, denn sie trat dicht an's Fenster. -- Der schlankeste Wuchs, die Umrisse, wie von dem Busen der Grazien entlehnt, sogar den weißesten Arm konnte ich noch auf meinem schnel- len Rückzuge bemerken. -- Ich wagte es nicht, näher zu kommen, und sah nur Schatten hin und her fahren und über den Rasen hinzittern. Ich stand da, wie ein Sünder im Orkus, der sich fürchtet, jetzt vor den ernsten Minos geru- fen zu werden.
Die Lautentöne waren jetzt verstummt, und als ich endlich wieder näher trat, sah ich eben die Alte durch eine kleine Thür in die angrän- zende Kammer wanken. Das Mädchen stand mit herabrollenden Locken in der Mitte des Zim- mers, und löste halbschläfrig das Busentuch auf. -- O Rosa, ich habe bis jetzt noch gar kein Weib gesehn, ich habe nicht gewußt, was
neue Welt hinein, und alles kam mir ſo ſchoͤn und reizend vor, es ſchien mir das hoͤchſte Gluͤck in dieſer Huͤtte zu leben, und dem Saitenſpiele des Maͤdchens zuzuhoͤren, dem Geſchwaͤtze der Alten und den kleinen Grillen in den Waͤn- den. — Das Maͤdchen ſtand auf, das Licht zu putzen, das heruntergebrennt war, und ich gieng ſcheu zuruͤck, denn ſie trat dicht an’s Fenſter. — Der ſchlankeſte Wuchs, die Umriſſe, wie von dem Buſen der Grazien entlehnt, ſogar den weißeſten Arm konnte ich noch auf meinem ſchnel- len Ruͤckzuge bemerken. — Ich wagte es nicht, naͤher zu kommen, und ſah nur Schatten hin und her fahren und uͤber den Raſen hinzittern. Ich ſtand da, wie ein Suͤnder im Orkus, der ſich fuͤrchtet, jetzt vor den ernſten Minos geru- fen zu werden.
Die Lautentoͤne waren jetzt verſtummt, und als ich endlich wieder naͤher trat, ſah ich eben die Alte durch eine kleine Thuͤr in die angraͤn- zende Kammer wanken. Das Maͤdchen ſtand mit herabrollenden Locken in der Mitte des Zim- mers, und loͤſte halbſchlaͤfrig das Buſentuch auf. — O Roſa, ich habe bis jetzt noch gar kein Weib geſehn, ich habe nicht gewußt, was
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neue Welt hinein, und alles kam mir ſo ſchoͤn
und reizend vor, es ſchien mir das hoͤchſte Gluͤck
in dieſer Huͤtte zu leben, und dem Saitenſpiele
des Maͤdchens zuzuhoͤren, dem Geſchwaͤtze der
Alten und den kleinen Grillen in den Waͤn-
den. — Das Maͤdchen ſtand auf, das Licht zu
putzen, das heruntergebrennt war, und ich gieng
ſcheu zuruͤck, denn ſie trat dicht an’s Fenſter. —
Der ſchlankeſte Wuchs, die Umriſſe, wie von
dem Buſen der Grazien entlehnt, ſogar den
weißeſten Arm konnte ich noch auf meinem ſchnel-
len Ruͤckzuge bemerken. — Ich wagte es nicht,
naͤher zu kommen, und ſah nur Schatten hin
und her fahren und uͤber den Raſen hinzittern.
Ich ſtand da, wie ein Suͤnder im Orkus, der
ſich fuͤrchtet, jetzt vor den ernſten Minos geru-
fen zu werden.
Die Lautentoͤne waren jetzt verſtummt, und
als ich endlich wieder naͤher trat, ſah ich eben
die Alte durch eine kleine Thuͤr in die angraͤn-
zende Kammer wanken. Das Maͤdchen ſtand
mit herabrollenden Locken in der Mitte des Zim-
mers, und loͤſte halbſchlaͤfrig das Buſentuch
auf. — O Roſa, ich habe bis jetzt noch gar
kein Weib geſehn, ich habe nicht gewußt, was
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Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 2. Berlin u. a., 1796, S. 106. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell02_1796/112>, abgerufen am 09.11.2024.
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