Es ist gewiß, daß man unter unschuldigen Menschen selbst wieder unschuldig wird. Jetzt kommen mir manche meiner Ideen zu gewagt vor, die mir sonst so natürlich schienen; ich bin hier in der kleinen Hütte demüthiger, ja ich fühl' es, daß ich ganz einer von den Menschen werden könnte, die ich mir bisher gar nicht deutlich denken konnte; die in einer engen dun- keln Stube geboren, nur so weit ihre Wünsche richten, als sie um sich sehen können; die mit einem Gebete erwachen und schlafen gehen, Mähr- chen hören und im Stillen überdenken, mit ei- nem dumpfen, langsamen Fleiße eine Handarbeit lernen, und nichts so sehnlich als den Abend und die Schlafstunde erwarten. O Rosa, wenn man dies Leben näher kennen lernt, so verliert es sehr viel von seiner drückenden Beklemmung. Wir machen aus unserm Leben so gern Ein un- unterbrochnes Vergnügen, und suchen Unan- nehmlichkeiten mühsam auf, um die Freude durch
34. William Lovell an Roſa.
Rom.
Es iſt gewiß, daß man unter unſchuldigen Menſchen ſelbſt wieder unſchuldig wird. Jetzt kommen mir manche meiner Ideen zu gewagt vor, die mir ſonſt ſo natuͤrlich ſchienen; ich bin hier in der kleinen Huͤtte demuͤthiger, ja ich fuͤhl’ es, daß ich ganz einer von den Menſchen werden koͤnnte, die ich mir bisher gar nicht deutlich denken konnte; die in einer engen dun- keln Stube geboren, nur ſo weit ihre Wuͤnſche richten, als ſie um ſich ſehen koͤnnen; die mit einem Gebete erwachen und ſchlafen gehen, Maͤhr- chen hoͤren und im Stillen uͤberdenken, mit ei- nem dumpfen, langſamen Fleiße eine Handarbeit lernen, und nichts ſo ſehnlich als den Abend und die Schlafſtunde erwarten. O Roſa, wenn man dies Leben naͤher kennen lernt, ſo verliert es ſehr viel von ſeiner druͤckenden Beklemmung. Wir machen aus unſerm Leben ſo gern Ein un- unterbrochnes Vergnuͤgen, und ſuchen Unan- nehmlichkeiten muͤhſam auf, um die Freude durch
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34.
William Lovell an Roſa.
Rom.
Es iſt gewiß, daß man unter unſchuldigen
Menſchen ſelbſt wieder unſchuldig wird. Jetzt
kommen mir manche meiner Ideen zu gewagt
vor, die mir ſonſt ſo natuͤrlich ſchienen; ich bin
hier in der kleinen Huͤtte demuͤthiger, ja ich
fuͤhl’ es, daß ich ganz einer von den Menſchen
werden koͤnnte, die ich mir bisher gar nicht
deutlich denken konnte; die in einer engen dun-
keln Stube geboren, nur ſo weit ihre Wuͤnſche
richten, als ſie um ſich ſehen koͤnnen; die mit
einem Gebete erwachen und ſchlafen gehen, Maͤhr-
chen hoͤren und im Stillen uͤberdenken, mit ei-
nem dumpfen, langſamen Fleiße eine Handarbeit
lernen, und nichts ſo ſehnlich als den Abend
und die Schlafſtunde erwarten. O Roſa, wenn
man dies Leben naͤher kennen lernt, ſo verliert
es ſehr viel von ſeiner druͤckenden Beklemmung.
Wir machen aus unſerm Leben ſo gern Ein un-
unterbrochnes Vergnuͤgen, und ſuchen Unan-
nehmlichkeiten muͤhſam auf, um die Freude durch
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Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 2. Berlin u. a., 1796, S. 143. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell02_1796/149>, abgerufen am 24.11.2024.
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