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Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 2. Berlin u. a., 1796.

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sich Wunderbare, denn in manchen Stunden
könnt' ich mich vor einem Baume, einem Thie-
re, ja vor mir selbst innerlich entsetzen. -- Wer
sind die fremden Gestalten, die mich umgeben
und so bekannt mit mir thun? Mein Auge hat
sich von meiner Kindheit an sie gewöhnt, und
mein Sinn sich vertraulich an ihre Formen ge-
schmiegt; aber wenn ich diese Bekanntschaft auf-
hebe, und sie mir als neu und zum erstenmale ge-
funden vorstelle? -- O und wer bin ich selbst? --
Wer ist das Wesen, das aus mir heraus spricht?
Wer das Unbegreifliche, das die Glieder mei-
nes Körpers regiert? Oft kommt mir mein Arm,
wie der eines Fremden entgegen; ich erschrak
neulich heftig, als ich über eine Sache denken
wollte, und plötzlich meine kalte Hand an mei-
ner heißen Stirn fühlte. -- Ich erinnre mich
aus meiner Kindheit, daß uns die weite Natur
mit ihren Bergen in der Ferne, mit dem ho-
hen gewölbten blauen Himmel, mit den tausend
belebten Gegenständen wie mit einem gewalti-
gen Entsetzen ergreifen kann; dann streift der
Geist der Natur unserm Geiste vorüber, und
rührt ihn mit seltsamen Gefühlen an, die wan-
kenden Bäume sprechen in verständlichen Tönen

R 2

ſich Wunderbare, denn in manchen Stunden
koͤnnt’ ich mich vor einem Baume, einem Thie-
re, ja vor mir ſelbſt innerlich entſetzen. — Wer
ſind die fremden Geſtalten, die mich umgeben
und ſo bekannt mit mir thun? Mein Auge hat
ſich von meiner Kindheit an ſie gewoͤhnt, und
mein Sinn ſich vertraulich an ihre Formen ge-
ſchmiegt; aber wenn ich dieſe Bekanntſchaft auf-
hebe, und ſie mir als neu und zum erſtenmale ge-
funden vorſtelle? — O und wer bin ich ſelbſt? —
Wer iſt das Weſen, das aus mir heraus ſpricht?
Wer das Unbegreifliche, das die Glieder mei-
nes Koͤrpers regiert? Oft kommt mir mein Arm,
wie der eines Fremden entgegen; ich erſchrak
neulich heftig, als ich uͤber eine Sache denken
wollte, und ploͤtzlich meine kalte Hand an mei-
ner heißen Stirn fuͤhlte. — Ich erinnre mich
aus meiner Kindheit, daß uns die weite Natur
mit ihren Bergen in der Ferne, mit dem ho-
hen gewoͤlbten blauen Himmel, mit den tauſend
belebten Gegenſtaͤnden wie mit einem gewalti-
gen Entſetzen ergreifen kann; dann ſtreift der
Geiſt der Natur unſerm Geiſte voruͤber, und
ruͤhrt ihn mit ſeltſamen Gefuͤhlen an, die wan-
kenden Baͤume ſprechen in verſtaͤndlichen Toͤnen

R 2
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[259/0265] ſich Wunderbare, denn in manchen Stunden koͤnnt’ ich mich vor einem Baume, einem Thie- re, ja vor mir ſelbſt innerlich entſetzen. — Wer ſind die fremden Geſtalten, die mich umgeben und ſo bekannt mit mir thun? Mein Auge hat ſich von meiner Kindheit an ſie gewoͤhnt, und mein Sinn ſich vertraulich an ihre Formen ge- ſchmiegt; aber wenn ich dieſe Bekanntſchaft auf- hebe, und ſie mir als neu und zum erſtenmale ge- funden vorſtelle? — O und wer bin ich ſelbſt? — Wer iſt das Weſen, das aus mir heraus ſpricht? Wer das Unbegreifliche, das die Glieder mei- nes Koͤrpers regiert? Oft kommt mir mein Arm, wie der eines Fremden entgegen; ich erſchrak neulich heftig, als ich uͤber eine Sache denken wollte, und ploͤtzlich meine kalte Hand an mei- ner heißen Stirn fuͤhlte. — Ich erinnre mich aus meiner Kindheit, daß uns die weite Natur mit ihren Bergen in der Ferne, mit dem ho- hen gewoͤlbten blauen Himmel, mit den tauſend belebten Gegenſtaͤnden wie mit einem gewalti- gen Entſetzen ergreifen kann; dann ſtreift der Geiſt der Natur unſerm Geiſte voruͤber, und ruͤhrt ihn mit ſeltſamen Gefuͤhlen an, die wan- kenden Baͤume ſprechen in verſtaͤndlichen Toͤnen R 2

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 2. Berlin u. a., 1796, S. 259. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell02_1796/265>, abgerufen am 21.11.2024.