Es müßte nichts schöner seyn, als sich selbst recht genau kennen zu lernen, und, lieber Freund, wenn man sich recht fleißig beobachtet, warum sollte es der Mensch nicht auch hierin zu einer gewissen mechanischen Fertigkeit bringen können, wie in so manchen andern Sachen, die uns doch so durchaus geistig vorkommen? so daß wir am Ende eine Festigkeit des Blickes erhal- ten, der die ungewissen, flatternden Gestalten fest und stehend werden läßt. Mir sind wenig- stens seit einiger Zeit tausend Sachen aus den fernsten Jahren, aus den verworrensten Gemüths- stimmungen eingefallen, an die ich bisher ent- weder gar nicht dachte, oder sie mir doch nicht so deutlich aus einander setzen konnte. Man steigt vielleicht immer höher, alles erscheint dann immer mehr als Zufälligkeit, was wir jetzt als unser Wesen betrachten, bis wir uns unserm eigentlichen Selbst immer mehr nähern, je mehr wir unser jetziges Selbst aus den Augen ver-
11. William Lovell an Roſa.
Rom.
Es muͤßte nichts ſchoͤner ſeyn, als ſich ſelbſt recht genau kennen zu lernen, und, lieber Freund, wenn man ſich recht fleißig beobachtet, warum ſollte es der Menſch nicht auch hierin zu einer gewiſſen mechaniſchen Fertigkeit bringen koͤnnen, wie in ſo manchen andern Sachen, die uns doch ſo durchaus geiſtig vorkommen? ſo daß wir am Ende eine Feſtigkeit des Blickes erhal- ten, der die ungewiſſen, flatternden Geſtalten feſt und ſtehend werden laͤßt. Mir ſind wenig- ſtens ſeit einiger Zeit tauſend Sachen aus den fernſten Jahren, aus den verworrenſten Gemuͤths- ſtimmungen eingefallen, an die ich bisher ent- weder gar nicht dachte, oder ſie mir doch nicht ſo deutlich aus einander ſetzen konnte. Man ſteigt vielleicht immer hoͤher, alles erſcheint dann immer mehr als Zufaͤlligkeit, was wir jetzt als unſer Weſen betrachten, bis wir uns unſerm eigentlichen Selbſt immer mehr naͤhern, je mehr wir unſer jetziges Selbſt aus den Augen ver-
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11.
William Lovell an Roſa.
Rom.
Es muͤßte nichts ſchoͤner ſeyn, als ſich ſelbſt
recht genau kennen zu lernen, und, lieber Freund,
wenn man ſich recht fleißig beobachtet, warum
ſollte es der Menſch nicht auch hierin zu einer
gewiſſen mechaniſchen Fertigkeit bringen koͤnnen,
wie in ſo manchen andern Sachen, die uns
doch ſo durchaus geiſtig vorkommen? ſo daß
wir am Ende eine Feſtigkeit des Blickes erhal-
ten, der die ungewiſſen, flatternden Geſtalten
feſt und ſtehend werden laͤßt. Mir ſind wenig-
ſtens ſeit einiger Zeit tauſend Sachen aus den
fernſten Jahren, aus den verworrenſten Gemuͤths-
ſtimmungen eingefallen, an die ich bisher ent-
weder gar nicht dachte, oder ſie mir doch nicht
ſo deutlich aus einander ſetzen konnte. Man
ſteigt vielleicht immer hoͤher, alles erſcheint dann
immer mehr als Zufaͤlligkeit, was wir jetzt als
unſer Weſen betrachten, bis wir uns unſerm
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wir unſer jetziges Selbſt aus den Augen ver-
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Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 2. Berlin u. a., 1796, S. 266. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell02_1796/272>, abgerufen am 21.11.2024.
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