Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 2. Berlin u. a., 1796.

Bild:
<< vorherige Seite
11.
William Lovell an Rosa.


Es müßte nichts schöner seyn, als sich selbst
recht genau kennen zu lernen, und, lieber Freund,
wenn man sich recht fleißig beobachtet, warum
sollte es der Mensch nicht auch hierin zu einer
gewissen mechanischen Fertigkeit bringen können,
wie in so manchen andern Sachen, die uns
doch so durchaus geistig vorkommen? so daß
wir am Ende eine Festigkeit des Blickes erhal-
ten, der die ungewissen, flatternden Gestalten
fest und stehend werden läßt. Mir sind wenig-
stens seit einiger Zeit tausend Sachen aus den
fernsten Jahren, aus den verworrensten Gemüths-
stimmungen eingefallen, an die ich bisher ent-
weder gar nicht dachte, oder sie mir doch nicht
so deutlich aus einander setzen konnte. Man
steigt vielleicht immer höher, alles erscheint dann
immer mehr als Zufälligkeit, was wir jetzt als
unser Wesen betrachten, bis wir uns unserm
eigentlichen Selbst immer mehr nähern, je mehr
wir unser jetziges Selbst aus den Augen ver-

11.
William Lovell an Roſa.


Es muͤßte nichts ſchoͤner ſeyn, als ſich ſelbſt
recht genau kennen zu lernen, und, lieber Freund,
wenn man ſich recht fleißig beobachtet, warum
ſollte es der Menſch nicht auch hierin zu einer
gewiſſen mechaniſchen Fertigkeit bringen koͤnnen,
wie in ſo manchen andern Sachen, die uns
doch ſo durchaus geiſtig vorkommen? ſo daß
wir am Ende eine Feſtigkeit des Blickes erhal-
ten, der die ungewiſſen, flatternden Geſtalten
feſt und ſtehend werden laͤßt. Mir ſind wenig-
ſtens ſeit einiger Zeit tauſend Sachen aus den
fernſten Jahren, aus den verworrenſten Gemuͤths-
ſtimmungen eingefallen, an die ich bisher ent-
weder gar nicht dachte, oder ſie mir doch nicht
ſo deutlich aus einander ſetzen konnte. Man
ſteigt vielleicht immer hoͤher, alles erſcheint dann
immer mehr als Zufaͤlligkeit, was wir jetzt als
unſer Weſen betrachten, bis wir uns unſerm
eigentlichen Selbſt immer mehr naͤhern, je mehr
wir unſer jetziges Selbſt aus den Augen ver-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0272" n="266"/>
        <div n="2">
          <head>11.<lb/><hi rendition="#g">William Lovell</hi> an <hi rendition="#g">Ro&#x017F;a</hi>.</head><lb/>
          <dateline>
            <placeName> <hi rendition="#right"><hi rendition="#g">Rom</hi>.</hi> </placeName>
          </dateline><lb/>
          <p><hi rendition="#in">E</hi>s mu&#x0364;ßte nichts &#x017F;cho&#x0364;ner &#x017F;eyn, als &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
recht genau kennen zu lernen, und, lieber <choice><sic>Frennd</sic><corr>Freund</corr></choice>,<lb/>
wenn man &#x017F;ich recht fleißig beobachtet, warum<lb/>
&#x017F;ollte es der Men&#x017F;ch nicht auch hierin zu einer<lb/>
gewi&#x017F;&#x017F;en mechani&#x017F;chen Fertigkeit bringen ko&#x0364;nnen,<lb/>
wie in &#x017F;o manchen andern Sachen, die uns<lb/>
doch &#x017F;o durchaus gei&#x017F;tig vorkommen? &#x017F;o daß<lb/>
wir am Ende eine Fe&#x017F;tigkeit des Blickes erhal-<lb/>
ten, der die ungewi&#x017F;&#x017F;en, flatternden Ge&#x017F;talten<lb/>
fe&#x017F;t und &#x017F;tehend werden la&#x0364;ßt. Mir &#x017F;ind wenig-<lb/>
&#x017F;tens &#x017F;eit einiger Zeit tau&#x017F;end Sachen aus den<lb/>
fern&#x017F;ten Jahren, aus den verworren&#x017F;ten Gemu&#x0364;ths-<lb/>
&#x017F;timmungen eingefallen, an die ich bisher ent-<lb/>
weder gar nicht dachte, oder &#x017F;ie mir doch nicht<lb/>
&#x017F;o deutlich aus einander &#x017F;etzen konnte. Man<lb/>
&#x017F;teigt vielleicht immer ho&#x0364;her, alles er&#x017F;cheint dann<lb/>
immer mehr als Zufa&#x0364;lligkeit, was wir jetzt als<lb/>
un&#x017F;er We&#x017F;en betrachten, bis wir uns un&#x017F;erm<lb/>
eigentlichen Selb&#x017F;t immer mehr na&#x0364;hern, je mehr<lb/>
wir un&#x017F;er jetziges Selb&#x017F;t aus den Augen ver-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[266/0272] 11. William Lovell an Roſa. Rom. Es muͤßte nichts ſchoͤner ſeyn, als ſich ſelbſt recht genau kennen zu lernen, und, lieber Freund, wenn man ſich recht fleißig beobachtet, warum ſollte es der Menſch nicht auch hierin zu einer gewiſſen mechaniſchen Fertigkeit bringen koͤnnen, wie in ſo manchen andern Sachen, die uns doch ſo durchaus geiſtig vorkommen? ſo daß wir am Ende eine Feſtigkeit des Blickes erhal- ten, der die ungewiſſen, flatternden Geſtalten feſt und ſtehend werden laͤßt. Mir ſind wenig- ſtens ſeit einiger Zeit tauſend Sachen aus den fernſten Jahren, aus den verworrenſten Gemuͤths- ſtimmungen eingefallen, an die ich bisher ent- weder gar nicht dachte, oder ſie mir doch nicht ſo deutlich aus einander ſetzen konnte. Man ſteigt vielleicht immer hoͤher, alles erſcheint dann immer mehr als Zufaͤlligkeit, was wir jetzt als unſer Weſen betrachten, bis wir uns unſerm eigentlichen Selbſt immer mehr naͤhern, je mehr wir unſer jetziges Selbſt aus den Augen ver-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell02_1796
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell02_1796/272
Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 2. Berlin u. a., 1796, S. 266. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell02_1796/272>, abgerufen am 21.11.2024.