Soll ich es Ihnen gestehen, Rosa, daß mir Ihr Brief gewissermaßen wehe gethan hat? Denn es ist einmal eine Schwäche der mensch- lichen Seele die sie vielleicht nie ablegen kann, daß ihr gewisse Bemerkungen Schmerzen ma- chen. Beim Anblicke aller Vortreflichkeiten scheint das menschliche Herz mit der Bewundrung zugleich einen gewissen Neid zu fühlen: ist der Eifer, irgend einem Muster ähnlich zu werden, wohl etwas anders? Wir suchen daher gern bey vorzüglichen Menschen eine Seite heraus, die unserm Tadel unterworfen seyn könnte, bloß um uns selbst als besser zu achten. Dieser Neid ist der Quell von allem, was wir in den gewöhnlichen Bedeutungen im Menschen Gut und Schlecht nennen, und eben darum, weil ich dies einsehe, sollte mich Ihr Brief auf keine Weise unzufrieden gemacht haben. Ich kann über meinen alten Freund durchaus nicht Ihrer Meynung seyn, am wenigsten kann ich jene
24. William Lovell an Roſa.
Rom.
Soll ich es Ihnen geſtehen, Roſa, daß mir Ihr Brief gewiſſermaßen wehe gethan hat? Denn es iſt einmal eine Schwaͤche der menſch- lichen Seele die ſie vielleicht nie ablegen kann, daß ihr gewiſſe Bemerkungen Schmerzen ma- chen. Beim Anblicke aller Vortreflichkeiten ſcheint das menſchliche Herz mit der Bewundrung zugleich einen gewiſſen Neid zu fuͤhlen: iſt der Eifer, irgend einem Muſter aͤhnlich zu werden, wohl etwas anders? Wir ſuchen daher gern bey vorzuͤglichen Menſchen eine Seite heraus, die unſerm Tadel unterworfen ſeyn koͤnnte, bloß um uns ſelbſt als beſſer zu achten. Dieſer Neid iſt der Quell von allem, was wir in den gewoͤhnlichen Bedeutungen im Menſchen Gut und Schlecht nennen, und eben darum, weil ich dies einſehe, ſollte mich Ihr Brief auf keine Weiſe unzufrieden gemacht haben. Ich kann uͤber meinen alten Freund durchaus nicht Ihrer Meynung ſeyn, am wenigſten kann ich jene
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24.
William Lovell an Roſa.
Rom.
Soll ich es Ihnen geſtehen, Roſa, daß mir
Ihr Brief gewiſſermaßen wehe gethan hat?
Denn es iſt einmal eine Schwaͤche der menſch-
lichen Seele die ſie vielleicht nie ablegen kann,
daß ihr gewiſſe Bemerkungen Schmerzen ma-
chen. Beim Anblicke aller Vortreflichkeiten
ſcheint das menſchliche Herz mit der Bewundrung
zugleich einen gewiſſen Neid zu fuͤhlen: iſt der
Eifer, irgend einem Muſter aͤhnlich zu werden,
wohl etwas anders? Wir ſuchen daher gern bey
vorzuͤglichen Menſchen eine Seite heraus, die
unſerm Tadel unterworfen ſeyn koͤnnte, bloß
um uns ſelbſt als beſſer zu achten. Dieſer
Neid iſt der Quell von allem, was wir in den
gewoͤhnlichen Bedeutungen im Menſchen Gut
und Schlecht nennen, und eben darum, weil ich
dies einſehe, ſollte mich Ihr Brief auf keine
Weiſe unzufrieden gemacht haben. Ich kann
uͤber meinen alten Freund durchaus nicht Ihrer
Meynung ſeyn, am wenigſten kann ich jene
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Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 2. Berlin u. a., 1796, S. 310. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell02_1796/316>, abgerufen am 22.11.2024.
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