Leben nachklingen, daß die Seele beständig wie eine versengte Aehre, selbst im Wachsthume, die Spur davon behält. -- Dein Vater ist sehr krank, und ich fühle, daß ich es auch werden kann, wenn ich recht lebhaft an Dich denke; wir gewöhnen uns so leicht daran, das Unglück, das wir nicht würklich vor uns sehen, als eine poetische Fiktion zu betrachten, daß alle Jam- mertöne gleichsam unbefiedert in uns anschlagen. Aber wenn ich mich dann zu Dir hinversetze, wenn mir die Bücher in die Hand fallen, die wir ehemals zusammen lasen, und ich noch ein- zelne Papierzeichen finde, oder angestrichne Stel- len von Dir entdecke. -- -- O komm zurück, komm zurück, William! Gedenke der süßen Har- monien, die Dich sonst umschwebten, ein from- mer kindlicher Sinn wohnte Dir im Busen, Du machtest Dir das Kleinste groß, und vergaßest darüber das Große; eine Blume war für Dich bedeutend, und ihr Verwelken merkwürdig, in- dem Dich politische Streitigkeiten und Parthey- kämpfe nicht kümmerten: ach vergieb, daß ich Dich damals so oft dieses zarten Kunstsinns wegen schalt, ich sehe jetzt mit Bedauern ein, daß die Seelen feinere Fühlfäden haben, die
Leben nachklingen, daß die Seele beſtaͤndig wie eine verſengte Aehre, ſelbſt im Wachsthume, die Spur davon behaͤlt. — Dein Vater iſt ſehr krank, und ich fuͤhle, daß ich es auch werden kann, wenn ich recht lebhaft an Dich denke; wir gewoͤhnen uns ſo leicht daran, das Ungluͤck, das wir nicht wuͤrklich vor uns ſehen, als eine poetiſche Fiktion zu betrachten, daß alle Jam- mertoͤne gleichſam unbefiedert in uns anſchlagen. Aber wenn ich mich dann zu Dir hinverſetze, wenn mir die Buͤcher in die Hand fallen, die wir ehemals zuſammen laſen, und ich noch ein- zelne Papierzeichen finde, oder angeſtrichne Stel- len von Dir entdecke. — — O komm zuruͤck, komm zuruͤck, William! Gedenke der ſuͤßen Har- monien, die Dich ſonſt umſchwebten, ein from- mer kindlicher Sinn wohnte Dir im Buſen, Du machteſt Dir das Kleinſte groß, und vergaßeſt daruͤber das Große; eine Blume war fuͤr Dich bedeutend, und ihr Verwelken merkwuͤrdig, in- dem Dich politiſche Streitigkeiten und Parthey- kaͤmpfe nicht kuͤmmerten: ach vergieb, daß ich Dich damals ſo oft dieſes zarten Kunſtſinns wegen ſchalt, ich ſehe jetzt mit Bedauern ein, daß die Seelen feinere Fuͤhlfaͤden haben, die
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Leben nachklingen, daß die Seele beſtaͤndig wie
eine verſengte Aehre, ſelbſt im Wachsthume, die
Spur davon behaͤlt. — Dein Vater iſt ſehr
krank, und ich fuͤhle, daß ich es auch werden
kann, wenn ich recht lebhaft an Dich denke;
wir gewoͤhnen uns ſo leicht daran, das Ungluͤck,
das wir nicht wuͤrklich vor uns ſehen, als eine
poetiſche Fiktion zu betrachten, daß alle Jam-
mertoͤne gleichſam unbefiedert in uns anſchlagen.
Aber wenn ich mich dann zu Dir hinverſetze,
wenn mir die Buͤcher in die Hand fallen, die
wir ehemals zuſammen laſen, und ich noch ein-
zelne Papierzeichen finde, oder angeſtrichne Stel-
len von Dir entdecke. — — O komm zuruͤck,
komm zuruͤck, William! Gedenke der ſuͤßen Har-
monien, die Dich ſonſt umſchwebten, ein from-
mer kindlicher Sinn wohnte Dir im Buſen, Du
machteſt Dir das Kleinſte groß, und vergaßeſt
daruͤber das Große; eine Blume war fuͤr Dich
bedeutend, und ihr Verwelken merkwuͤrdig, in-
dem Dich politiſche Streitigkeiten und Parthey-
kaͤmpfe nicht kuͤmmerten: ach vergieb, daß ich
Dich damals ſo oft dieſes zarten Kunſtſinns
wegen ſchalt, ich ſehe jetzt mit Bedauern ein,
daß die Seelen feinere Fuͤhlfaͤden haben, die
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Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 2. Berlin u. a., 1796, S. 91. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell02_1796/97>, abgerufen am 24.11.2024.
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