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Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 3. Berlin u. a., 1796.

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Gestern kam der alte Willy ganz matt und
athemlos hier an, um seinen Bruder Thomas
zu besuchen. Er war die letzten Meilen, so alt
er auch ist, zu Fuß gelaufen, um seinen Bruder
nur desto früher zu sehen. Der alte Mann hat
sich eingebildet, er müsse jetzt sterben, und dar-
um will er noch vorher von Thomas Abschied
nehmen. Die Ermüdung, so wie sein Aber-
glaube haben es wirklich dahin gebracht, daß
er krank geworden ist, und jetzt im Bette
liegt. Er hat mich aber innig durch seine Liebe
gegen seinen Bruder gerührt, den seine einge-
bildete Klugheit hindert ihn wieder eben so zu
lieben. Viele Menschen, besonders unter den
gemeinern, schämen sich ein Herz zu haben, so-
bald sie nur einigen Verstand zu haben glau-
ben. Willy spricht viel vom Lovell, und mit
einer ausserordentlichen Innbrunst; mir standen
die Trähnen in den Augen, als ich ihm zuhör-
te. Meine ganze Seele streckt sich in mir aus,
so oft ich diesen Nahmen nennen höre, es ist
jedesmal als wollte man mir einen Vorwurf
damit machen, weil er nicht mehr mein Freund
ist. -- Und konnt' ich anders handeln? --
That ich nicht alles um mir seine Liebe aufzu-

Geſtern kam der alte Willy ganz matt und
athemlos hier an, um ſeinen Bruder Thomas
zu beſuchen. Er war die letzten Meilen, ſo alt
er auch iſt, zu Fuß gelaufen, um ſeinen Bruder
nur deſto fruͤher zu ſehen. Der alte Mann hat
ſich eingebildet, er muͤſſe jetzt ſterben, und dar-
um will er noch vorher von Thomas Abſchied
nehmen. Die Ermuͤdung, ſo wie ſein Aber-
glaube haben es wirklich dahin gebracht, daß
er krank geworden iſt, und jetzt im Bette
liegt. Er hat mich aber innig durch ſeine Liebe
gegen ſeinen Bruder geruͤhrt, den ſeine einge-
bildete Klugheit hindert ihn wieder eben ſo zu
lieben. Viele Menſchen, beſonders unter den
gemeinern, ſchaͤmen ſich ein Herz zu haben, ſo-
bald ſie nur einigen Verſtand zu haben glau-
ben. Willy ſpricht viel vom Lovell, und mit
einer auſſerordentlichen Innbrunſt; mir ſtanden
die Traͤhnen in den Augen, als ich ihm zuhoͤr-
te. Meine ganze Seele ſtreckt ſich in mir aus,
ſo oft ich dieſen Nahmen nennen hoͤre, es iſt
jedesmal als wollte man mir einen Vorwurf
damit machen, weil er nicht mehr mein Freund
iſt. — Und konnt' ich anders handeln? —
That ich nicht alles um mir ſeine Liebe aufzu-

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[9/0016] Geſtern kam der alte Willy ganz matt und athemlos hier an, um ſeinen Bruder Thomas zu beſuchen. Er war die letzten Meilen, ſo alt er auch iſt, zu Fuß gelaufen, um ſeinen Bruder nur deſto fruͤher zu ſehen. Der alte Mann hat ſich eingebildet, er muͤſſe jetzt ſterben, und dar- um will er noch vorher von Thomas Abſchied nehmen. Die Ermuͤdung, ſo wie ſein Aber- glaube haben es wirklich dahin gebracht, daß er krank geworden iſt, und jetzt im Bette liegt. Er hat mich aber innig durch ſeine Liebe gegen ſeinen Bruder geruͤhrt, den ſeine einge- bildete Klugheit hindert ihn wieder eben ſo zu lieben. Viele Menſchen, beſonders unter den gemeinern, ſchaͤmen ſich ein Herz zu haben, ſo- bald ſie nur einigen Verſtand zu haben glau- ben. Willy ſpricht viel vom Lovell, und mit einer auſſerordentlichen Innbrunſt; mir ſtanden die Traͤhnen in den Augen, als ich ihm zuhoͤr- te. Meine ganze Seele ſtreckt ſich in mir aus, ſo oft ich dieſen Nahmen nennen hoͤre, es iſt jedesmal als wollte man mir einen Vorwurf damit machen, weil er nicht mehr mein Freund iſt. — Und konnt' ich anders handeln? — That ich nicht alles um mir ſeine Liebe aufzu-

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 3. Berlin u. a., 1796, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell03_1796/16>, abgerufen am 23.11.2024.