ben! Alles zieht sich von mir zurück, meine vertrautesten Freunde kennen mich nicht mehr, wenn sie mir auf der Straße begegnen, und noch vor kurzem waren sie lauter Höflichkeit, lauter Demuth. Im Grunde ist das mensch- liche Geschlecht und vor allem der kultivirte Theil desselben eine große Heerde von Kanni- balen. Im gewöhnlichen Umgange sieht man Verbeugungen gegen einander, die höchste Auf- merksamkeit, daß keiner den andern verletze, oder auf irgend eine Art beleidige, man thut als würde man durch Hochachtung, durch Blicke und Komplimente beglückt, -- o, und wenn diese Menschen dadurch reich werden könnten, sie zerrissen denselben Gegenstand lebendig mit den Händen, ja mit den Zähnen. -- Es hat hier Kerls gegeben, die mir eine entfallene Fe- der, eine kleine Münze, mit der größten Ehr- erbietung wieder reichten, zehn beeiferten sich um die Wette, mir den Dienst zu thun, und jetzt würden alle zehn mir keinen Thaler geben, und wenn sie mich dadurch von dem Verhun- gern retten könnten. -- Noch nie, als jetzt, habe ich den Druck der Armuth gefühlt und ihre Leiden sind fürchterlich, man kann leicht
ben! Alles zieht ſich von mir zuruͤck, meine vertrauteſten Freunde kennen mich nicht mehr, wenn ſie mir auf der Straße begegnen, und noch vor kurzem waren ſie lauter Hoͤflichkeit, lauter Demuth. Im Grunde iſt das menſch- liche Geſchlecht und vor allem der kultivirte Theil deſſelben eine große Heerde von Kanni- balen. Im gewoͤhnlichen Umgange ſieht man Verbeugungen gegen einander, die hoͤchſte Auf- merkſamkeit, daß keiner den andern verletze, oder auf irgend eine Art beleidige, man thut als wuͤrde man durch Hochachtung, durch Blicke und Komplimente begluͤckt, — o, und wenn dieſe Menſchen dadurch reich werden koͤnnten, ſie zerriſſen denſelben Gegenſtand lebendig mit den Haͤnden, ja mit den Zaͤhnen. — Es hat hier Kerls gegeben, die mir eine entfallene Fe- der, eine kleine Muͤnze, mit der groͤßten Ehr- erbietung wieder reichten, zehn beeiferten ſich um die Wette, mir den Dienſt zu thun, und jetzt wuͤrden alle zehn mir keinen Thaler geben, und wenn ſie mich dadurch von dem Verhun- gern retten koͤnnten. — Noch nie, als jetzt, habe ich den Druck der Armuth gefuͤhlt und ihre Leiden ſind fuͤrchterlich, man kann leicht
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ben! Alles zieht ſich von mir zuruͤck, meine
vertrauteſten Freunde kennen mich nicht mehr,
wenn ſie mir auf der Straße begegnen, und
noch vor kurzem waren ſie lauter Hoͤflichkeit,
lauter Demuth. Im Grunde iſt das menſch-
liche Geſchlecht und vor allem der kultivirte
Theil deſſelben eine große Heerde von Kanni-
balen. Im gewoͤhnlichen Umgange ſieht man
Verbeugungen gegen einander, die hoͤchſte Auf-
merkſamkeit, daß keiner den andern verletze,
oder auf irgend eine Art beleidige, man thut
als wuͤrde man durch Hochachtung, durch Blicke
und Komplimente begluͤckt, — o, und wenn
dieſe Menſchen dadurch reich werden koͤnnten,
ſie zerriſſen denſelben Gegenſtand lebendig mit
den Haͤnden, ja mit den Zaͤhnen. — Es hat
hier Kerls gegeben, die mir eine entfallene Fe-
der, eine kleine Muͤnze, mit der groͤßten Ehr-
erbietung wieder reichten, zehn beeiferten ſich
um die Wette, mir den Dienſt zu thun, und
jetzt wuͤrden alle zehn mir keinen Thaler geben,
und wenn ſie mich dadurch von dem Verhun-
gern retten koͤnnten. — Noch nie, als jetzt,
habe ich den Druck der Armuth gefuͤhlt und
ihre Leiden ſind fuͤrchterlich, man kann leicht
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Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 3. Berlin u. a., 1796, S. 251. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell03_1796/258>, abgerufen am 22.11.2024.
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