Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 3. Berlin u. a., 1796.

Bild:
<< vorherige Seite

Geschöpfe vertraut, keine Menschenklasse ist
mir nun mehr fremd; ich habe viel erfahren
und gelernt. -- Ich wohne jetzt unter Bett-
lern und lebe in ihrer Gesellschaft, ich sehe es,
wie sich die Menschheit im niedrigsten Aus-
wurfe zeigt, wie alle Anlagen, alle Niederträch-
tigkeiten hier in ihrer schönsten Blüthe pran-
gen: es zerreißt mir oft das Herz, wenn ich
den Anblick des Jammers genau betrachte, wie
sie von allen Bedürfnissen entblößt sind und
ihre Sinnlichkeit sie beherrscht, wie sie gierig
verschlingen was sie zusammengebettelt haben und
ohne Thränen für ihr eignes Elend sind; wie
sie sich verläumden und gegenseitig verachten,
wie es unter ihnen selbst Prahler und Ver-
schwender giebt, -- ach! was soll man zu den
Menschen sagen?

Neulich lag ich im Sonnenschein in der
Ecke eines freyen Platzes. Ein altes zerlump-
tes Weib kam und führte ihren blinden Sohn
an der Hand; sie setzten sich nicht weit von
mir nieder. -- Mutter, fing der Blinde an,
es brennt mir so auf den Augen, die Sonne
scheint gewiß, wie Du immer sagst. -- Ja,
sagte die Mutter, liebes Kind, setze Dich hier

R 2

Geſchoͤpfe vertraut, keine Menſchenklaſſe iſt
mir nun mehr fremd; ich habe viel erfahren
und gelernt. — Ich wohne jetzt unter Bett-
lern und lebe in ihrer Geſellſchaft, ich ſehe es,
wie ſich die Menſchheit im niedrigſten Aus-
wurfe zeigt, wie alle Anlagen, alle Niedertraͤch-
tigkeiten hier in ihrer ſchoͤnſten Bluͤthe pran-
gen: es zerreißt mir oft das Herz, wenn ich
den Anblick des Jammers genau betrachte, wie
ſie von allen Beduͤrfniſſen entbloͤßt ſind und
ihre Sinnlichkeit ſie beherrſcht, wie ſie gierig
verſchlingen was ſie zuſammengebettelt haben und
ohne Thraͤnen fuͤr ihr eignes Elend ſind; wie
ſie ſich verlaͤumden und gegenſeitig verachten,
wie es unter ihnen ſelbſt Prahler und Ver-
ſchwender giebt, — ach! was ſoll man zu den
Menſchen ſagen?

Neulich lag ich im Sonnenſchein in der
Ecke eines freyen Platzes. Ein altes zerlump-
tes Weib kam und fuͤhrte ihren blinden Sohn
an der Hand; ſie ſetzten ſich nicht weit von
mir nieder. — Mutter, fing der Blinde an,
es brennt mir ſo auf den Augen, die Sonne
ſcheint gewiß, wie Du immer ſagſt. — Ja,
ſagte die Mutter, liebes Kind, ſetze Dich hier

R 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0266" n="259"/>
Ge&#x017F;cho&#x0364;pfe vertraut, keine Men&#x017F;chenkla&#x017F;&#x017F;e i&#x017F;t<lb/>
mir nun mehr fremd; ich habe viel erfahren<lb/>
und gelernt. &#x2014; Ich wohne jetzt unter Bett-<lb/>
lern und lebe in ihrer Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft, ich &#x017F;ehe es,<lb/>
wie &#x017F;ich die Men&#x017F;chheit im niedrig&#x017F;ten Aus-<lb/>
wurfe zeigt, wie alle Anlagen, alle Niedertra&#x0364;ch-<lb/>
tigkeiten hier in ihrer &#x017F;cho&#x0364;n&#x017F;ten Blu&#x0364;the pran-<lb/>
gen: es zerreißt mir oft das Herz, wenn ich<lb/>
den Anblick des Jammers genau betrachte, wie<lb/>
&#x017F;ie von allen Bedu&#x0364;rfni&#x017F;&#x017F;en entblo&#x0364;ßt &#x017F;ind und<lb/>
ihre Sinnlichkeit &#x017F;ie beherr&#x017F;cht, wie &#x017F;ie gierig<lb/>
ver&#x017F;chlingen was &#x017F;ie zu&#x017F;ammengebettelt haben und<lb/>
ohne Thra&#x0364;nen fu&#x0364;r ihr eignes Elend &#x017F;ind; wie<lb/>
&#x017F;ie &#x017F;ich verla&#x0364;umden und gegen&#x017F;eitig verachten,<lb/>
wie es unter ihnen &#x017F;elb&#x017F;t Prahler und Ver-<lb/>
&#x017F;chwender giebt, &#x2014; ach! was &#x017F;oll man zu den<lb/>
Men&#x017F;chen &#x017F;agen?</p><lb/>
          <p>Neulich lag ich im Sonnen&#x017F;chein in der<lb/>
Ecke eines freyen Platzes. Ein altes zerlump-<lb/>
tes Weib kam und fu&#x0364;hrte ihren blinden Sohn<lb/>
an der Hand; &#x017F;ie &#x017F;etzten &#x017F;ich nicht weit von<lb/>
mir nieder. &#x2014; Mutter, fing der Blinde an,<lb/>
es brennt mir &#x017F;o auf den Augen, die <choice><sic>Senne</sic><corr>Sonne</corr></choice><lb/>
&#x017F;cheint gewiß, wie Du immer &#x017F;ag&#x017F;t. &#x2014; Ja,<lb/>
&#x017F;agte die Mutter, liebes Kind, &#x017F;etze Dich hier<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">R 2</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[259/0266] Geſchoͤpfe vertraut, keine Menſchenklaſſe iſt mir nun mehr fremd; ich habe viel erfahren und gelernt. — Ich wohne jetzt unter Bett- lern und lebe in ihrer Geſellſchaft, ich ſehe es, wie ſich die Menſchheit im niedrigſten Aus- wurfe zeigt, wie alle Anlagen, alle Niedertraͤch- tigkeiten hier in ihrer ſchoͤnſten Bluͤthe pran- gen: es zerreißt mir oft das Herz, wenn ich den Anblick des Jammers genau betrachte, wie ſie von allen Beduͤrfniſſen entbloͤßt ſind und ihre Sinnlichkeit ſie beherrſcht, wie ſie gierig verſchlingen was ſie zuſammengebettelt haben und ohne Thraͤnen fuͤr ihr eignes Elend ſind; wie ſie ſich verlaͤumden und gegenſeitig verachten, wie es unter ihnen ſelbſt Prahler und Ver- ſchwender giebt, — ach! was ſoll man zu den Menſchen ſagen? Neulich lag ich im Sonnenſchein in der Ecke eines freyen Platzes. Ein altes zerlump- tes Weib kam und fuͤhrte ihren blinden Sohn an der Hand; ſie ſetzten ſich nicht weit von mir nieder. — Mutter, fing der Blinde an, es brennt mir ſo auf den Augen, die Sonne ſcheint gewiß, wie Du immer ſagſt. — Ja, ſagte die Mutter, liebes Kind, ſetze Dich hier R 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell03_1796
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell03_1796/266
Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 3. Berlin u. a., 1796, S. 259. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell03_1796/266>, abgerufen am 22.11.2024.