Geschöpfe vertraut, keine Menschenklasse ist mir nun mehr fremd; ich habe viel erfahren und gelernt. -- Ich wohne jetzt unter Bett- lern und lebe in ihrer Gesellschaft, ich sehe es, wie sich die Menschheit im niedrigsten Aus- wurfe zeigt, wie alle Anlagen, alle Niederträch- tigkeiten hier in ihrer schönsten Blüthe pran- gen: es zerreißt mir oft das Herz, wenn ich den Anblick des Jammers genau betrachte, wie sie von allen Bedürfnissen entblößt sind und ihre Sinnlichkeit sie beherrscht, wie sie gierig verschlingen was sie zusammengebettelt haben und ohne Thränen für ihr eignes Elend sind; wie sie sich verläumden und gegenseitig verachten, wie es unter ihnen selbst Prahler und Ver- schwender giebt, -- ach! was soll man zu den Menschen sagen?
Neulich lag ich im Sonnenschein in der Ecke eines freyen Platzes. Ein altes zerlump- tes Weib kam und führte ihren blinden Sohn an der Hand; sie setzten sich nicht weit von mir nieder. -- Mutter, fing der Blinde an, es brennt mir so auf den Augen, die Sonne scheint gewiß, wie Du immer sagst. -- Ja, sagte die Mutter, liebes Kind, setze Dich hier
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Geſchoͤpfe vertraut, keine Menſchenklaſſe iſt mir nun mehr fremd; ich habe viel erfahren und gelernt. — Ich wohne jetzt unter Bett- lern und lebe in ihrer Geſellſchaft, ich ſehe es, wie ſich die Menſchheit im niedrigſten Aus- wurfe zeigt, wie alle Anlagen, alle Niedertraͤch- tigkeiten hier in ihrer ſchoͤnſten Bluͤthe pran- gen: es zerreißt mir oft das Herz, wenn ich den Anblick des Jammers genau betrachte, wie ſie von allen Beduͤrfniſſen entbloͤßt ſind und ihre Sinnlichkeit ſie beherrſcht, wie ſie gierig verſchlingen was ſie zuſammengebettelt haben und ohne Thraͤnen fuͤr ihr eignes Elend ſind; wie ſie ſich verlaͤumden und gegenſeitig verachten, wie es unter ihnen ſelbſt Prahler und Ver- ſchwender giebt, — ach! was ſoll man zu den Menſchen ſagen?
Neulich lag ich im Sonnenſchein in der Ecke eines freyen Platzes. Ein altes zerlump- tes Weib kam und fuͤhrte ihren blinden Sohn an der Hand; ſie ſetzten ſich nicht weit von mir nieder. — Mutter, fing der Blinde an, es brennt mir ſo auf den Augen, die Sonne ſcheint gewiß, wie Du immer ſagſt. — Ja, ſagte die Mutter, liebes Kind, ſetze Dich hier
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Geſchoͤpfe vertraut, keine Menſchenklaſſe iſt
mir nun mehr fremd; ich habe viel erfahren
und gelernt. — Ich wohne jetzt unter Bett-
lern und lebe in ihrer Geſellſchaft, ich ſehe es,
wie ſich die Menſchheit im niedrigſten Aus-
wurfe zeigt, wie alle Anlagen, alle Niedertraͤch-
tigkeiten hier in ihrer ſchoͤnſten Bluͤthe pran-
gen: es zerreißt mir oft das Herz, wenn ich
den Anblick des Jammers genau betrachte, wie
ſie von allen Beduͤrfniſſen entbloͤßt ſind und
ihre Sinnlichkeit ſie beherrſcht, wie ſie gierig
verſchlingen was ſie zuſammengebettelt haben und
ohne Thraͤnen fuͤr ihr eignes Elend ſind; wie
ſie ſich verlaͤumden und gegenſeitig verachten,
wie es unter ihnen ſelbſt Prahler und Ver-
ſchwender giebt, — ach! was ſoll man zu den
Menſchen ſagen?
Neulich lag ich im Sonnenſchein in der
Ecke eines freyen Platzes. Ein altes zerlump-
tes Weib kam und fuͤhrte ihren blinden Sohn
an der Hand; ſie ſetzten ſich nicht weit von
mir nieder. — Mutter, fing der Blinde an,
es brennt mir ſo auf den Augen, die Sonne
ſcheint gewiß, wie Du immer ſagſt. — Ja,
ſagte die Mutter, liebes Kind, ſetze Dich hier
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Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 3. Berlin u. a., 1796, S. 259. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell03_1796/266>, abgerufen am 22.11.2024.
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