Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 3. Berlin u. a., 1796.

Bild:
<< vorherige Seite

glaubte, daß seine Krankheit vorzüglich in ei-
ner tiefen Melancholie bestehe.

Mein Bruder war gestern ausgeritten und
ich saß allein im Garten. Sie kennen die Lau-
be
, in der ich am liebsten bin, wo man nur
den einen schmalen Gang hinunter sehn kann
und allenthalben von dichten Hecken eingeschlos-
sen ist. Ich las und arbeitete, und bemerkte
nach einiger Zeit den Kranken, der tiefsinnig
im Gange auf- und abging, bald mit verschräuk-
ten
Armen stille stand und den Blick starr auf
den Boden heftete, bald Blumen abriß und sie
mit seinen Thränen benetzte. Ich war auf alle
seine Bewegungen aufmerksam, denn aus jeder
schien ein tiefer Kummer zu sprechen. Ich weiß
selbst nicht, auf welche wunderbare Weise mein
Herz in mir bewegt ward, es war mir ganz
wie bey einer guten Tragödie zu Muthe, wo
ein unbekannter Elender unsre ganze Theilnah-
me an sich reißt.

Ich konnte es nicht unterlassen, ich mußte
aufstehn und ihm näher treten. Er schien be-
wegt und erschreckt, als er mich erblickte, er
wußte nicht, ob er gehen sollte, oder bleiben.
Ich redete ihn freundlich an, um ihn über sei-

glaubte, daß ſeine Krankheit vorzuͤglich in ei-
ner tiefen Melancholie beſtehe.

Mein Bruder war geſtern ausgeritten und
ich ſaß allein im Garten. Sie kennen die Lau-
be
, in der ich am liebſten bin, wo man nur
den einen ſchmalen Gang hinunter ſehn kann
und allenthalben von dichten Hecken eingeſchloſ-
ſen iſt. Ich las und arbeitete, und bemerkte
nach einiger Zeit den Kranken, der tiefſinnig
im Gange auf- und abging, bald mit verſchraͤuk-
ten
Armen ſtille ſtand und den Blick ſtarr auf
den Boden heftete, bald Blumen abriß und ſie
mit ſeinen Thraͤnen benetzte. Ich war auf alle
ſeine Bewegungen aufmerkſam, denn aus jeder
ſchien ein tiefer Kummer zu ſprechen. Ich weiß
ſelbſt nicht, auf welche wunderbare Weiſe mein
Herz in mir bewegt ward, es war mir ganz
wie bey einer guten Tragoͤdie zu Muthe, wo
ein unbekannter Elender unſre ganze Theilnah-
me an ſich reißt.

Ich konnte es nicht unterlaſſen, ich mußte
aufſtehn und ihm naͤher treten. Er ſchien be-
wegt und erſchreckt, als er mich erblickte, er
wußte nicht, ob er gehen ſollte, oder bleiben.
Ich redete ihn freundlich an, um ihn uͤber ſei-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0034" n="27"/>
glaubte, daß &#x017F;eine Krankheit vorzu&#x0364;glich in ei-<lb/>
ner tiefen Melancholie be&#x017F;tehe.</p><lb/>
          <p>Mein Bruder war ge&#x017F;tern ausgeritten und<lb/>
ich &#x017F;aß allein im Garten. Sie kennen die <choice><sic>Lan-<lb/>
be</sic><corr>Lau-<lb/>
be</corr></choice>, in der ich am lieb&#x017F;ten bin, wo man nur<lb/>
den einen &#x017F;chmalen Gang hinunter &#x017F;ehn kann<lb/>
und allenthalben von dichten Hecken einge&#x017F;chlo&#x017F;-<lb/>
&#x017F;en i&#x017F;t. Ich las und arbeitete, und bemerkte<lb/>
nach einiger Zeit den Kranken, der tief&#x017F;innig<lb/>
im Gange auf- und abging, bald mit <choice><sic>ver&#x017F;chra&#x0364;uk-<lb/>
teb</sic><corr>ver&#x017F;chra&#x0364;uk-<lb/>
ten</corr></choice> Armen &#x017F;tille &#x017F;tand und den Blick &#x017F;tarr auf<lb/>
den Boden heftete, bald Blumen abriß und &#x017F;ie<lb/>
mit &#x017F;einen Thra&#x0364;nen benetzte. Ich war auf alle<lb/>
&#x017F;eine Bewegungen aufmerk&#x017F;am, denn aus jeder<lb/>
&#x017F;chien ein tiefer Kummer zu &#x017F;prechen. Ich weiß<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t nicht, auf welche wunderbare Wei&#x017F;e mein<lb/>
Herz in mir bewegt ward, es war mir ganz<lb/>
wie bey einer guten Trago&#x0364;die zu Muthe, wo<lb/>
ein unbekannter Elender un&#x017F;re ganze Theilnah-<lb/>
me an &#x017F;ich reißt.</p><lb/>
          <p>Ich konnte es nicht unterla&#x017F;&#x017F;en, ich mußte<lb/>
auf&#x017F;tehn und ihm na&#x0364;her treten. Er &#x017F;chien be-<lb/>
wegt und er&#x017F;chreckt, als er mich erblickte, er<lb/>
wußte nicht, ob er gehen &#x017F;ollte, oder bleiben.<lb/>
Ich redete ihn freundlich an, um ihn u&#x0364;ber &#x017F;ei-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[27/0034] glaubte, daß ſeine Krankheit vorzuͤglich in ei- ner tiefen Melancholie beſtehe. Mein Bruder war geſtern ausgeritten und ich ſaß allein im Garten. Sie kennen die Lau- be, in der ich am liebſten bin, wo man nur den einen ſchmalen Gang hinunter ſehn kann und allenthalben von dichten Hecken eingeſchloſ- ſen iſt. Ich las und arbeitete, und bemerkte nach einiger Zeit den Kranken, der tiefſinnig im Gange auf- und abging, bald mit verſchraͤuk- ten Armen ſtille ſtand und den Blick ſtarr auf den Boden heftete, bald Blumen abriß und ſie mit ſeinen Thraͤnen benetzte. Ich war auf alle ſeine Bewegungen aufmerkſam, denn aus jeder ſchien ein tiefer Kummer zu ſprechen. Ich weiß ſelbſt nicht, auf welche wunderbare Weiſe mein Herz in mir bewegt ward, es war mir ganz wie bey einer guten Tragoͤdie zu Muthe, wo ein unbekannter Elender unſre ganze Theilnah- me an ſich reißt. Ich konnte es nicht unterlaſſen, ich mußte aufſtehn und ihm naͤher treten. Er ſchien be- wegt und erſchreckt, als er mich erblickte, er wußte nicht, ob er gehen ſollte, oder bleiben. Ich redete ihn freundlich an, um ihn uͤber ſei-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell03_1796
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell03_1796/34
Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 3. Berlin u. a., 1796, S. 27. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell03_1796/34>, abgerufen am 23.11.2024.