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Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 3. Berlin u. a., 1796.

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Chor, und der Gesang der Vögel erschallte
munter dazwischen, wie ein Wettgesang der
weltlichen Freuden mit dem Seegen des Him-
mels. Ich schlummerte oft ein und faßte dann
die größten und frömmsten Entschließungen;
dann hob ich meine Hände kindlich zum Him-
mel empor, und alle Gefühle zerrannen in mei-
nem Herzen und vereinigten sich in einen
Punkt. Thränen stürzten dann aus meinen Au-
gen und endigten so meinen hohen Taumel.
Ich hatte von der großen Liebe Gottes zu den
Menschen gehört, und dies Gefühl hielt ich für
diese Liebe, denn es war, als wenn mein Herz
ein magnetischer Mittelpunkt wäre, der vom
Himmel unwiderstehlich angezogen würde und
den die körperliche Hülle kaum noch auf der
Erde zurückhielte. Mein Vater war selbst im
Alter fromm geworden, und seine Gespräche
dienten sehr dazu, meine Phantasie noch mehr
zu erhitzen.

Enthusiasmus.

Ich hielt mich in meinem Sinne, wenn ich
die Geschichte, oder andre Bücher über Men-

Chor, und der Geſang der Voͤgel erſchallte
munter dazwiſchen, wie ein Wettgeſang der
weltlichen Freuden mit dem Seegen des Him-
mels. Ich ſchlummerte oft ein und faßte dann
die groͤßten und froͤmmſten Entſchließungen;
dann hob ich meine Haͤnde kindlich zum Him-
mel empor, und alle Gefuͤhle zerrannen in mei-
nem Herzen und vereinigten ſich in einen
Punkt. Thraͤnen ſtuͤrzten dann aus meinen Au-
gen und endigten ſo meinen hohen Taumel.
Ich hatte von der großen Liebe Gottes zu den
Menſchen gehoͤrt, und dies Gefuͤhl hielt ich fuͤr
dieſe Liebe, denn es war, als wenn mein Herz
ein magnetiſcher Mittelpunkt waͤre, der vom
Himmel unwiderſtehlich angezogen wuͤrde und
den die koͤrperliche Huͤlle kaum noch auf der
Erde zuruͤckhielte. Mein Vater war ſelbſt im
Alter fromm geworden, und ſeine Geſpraͤche
dienten ſehr dazu, meine Phantaſie noch mehr
zu erhitzen.

Enthuſiasmus.

Ich hielt mich in meinem Sinne, wenn ich
die Geſchichte, oder andre Buͤcher uͤber Men-

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[402/0409] Chor, und der Geſang der Voͤgel erſchallte munter dazwiſchen, wie ein Wettgeſang der weltlichen Freuden mit dem Seegen des Him- mels. Ich ſchlummerte oft ein und faßte dann die groͤßten und froͤmmſten Entſchließungen; dann hob ich meine Haͤnde kindlich zum Him- mel empor, und alle Gefuͤhle zerrannen in mei- nem Herzen und vereinigten ſich in einen Punkt. Thraͤnen ſtuͤrzten dann aus meinen Au- gen und endigten ſo meinen hohen Taumel. Ich hatte von der großen Liebe Gottes zu den Menſchen gehoͤrt, und dies Gefuͤhl hielt ich fuͤr dieſe Liebe, denn es war, als wenn mein Herz ein magnetiſcher Mittelpunkt waͤre, der vom Himmel unwiderſtehlich angezogen wuͤrde und den die koͤrperliche Huͤlle kaum noch auf der Erde zuruͤckhielte. Mein Vater war ſelbſt im Alter fromm geworden, und ſeine Geſpraͤche dienten ſehr dazu, meine Phantaſie noch mehr zu erhitzen. Enthuſiasmus. Ich hielt mich in meinem Sinne, wenn ich die Geſchichte, oder andre Buͤcher uͤber Men-

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 3. Berlin u. a., 1796, S. 402. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell03_1796/409>, abgerufen am 22.11.2024.