Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 3. Berlin u. a., 1796.

Bild:
<< vorherige Seite

Ich betrat das Englische Ufer, um hier neue
Erfahrungen zu machen.

Klugheit.

Ich kam mit der festen Ueberzeugung zu-
rück, die Menschen zu kennen. Ich hatte im
Laufe meines wilden Lebens nicht unterlassen,
sie zu beobachten, aber ich war mir dieser Be-
obachtungen viel zu sehr bewußt, als daß sie
hätten richtig seyn können. Es ist schwer, die
Menschen in der Gegenwart zu kennen, weit
richtiger beurtheilt man sie in der Entfernung,
wenn wir nach und nach die wahrgenommenen
Merkmale sammeln. Ueber meine Freunde in
Italien fing ich daher an, ganz richtig zu den-
ken, und doch brachten mich die Menschen, die
ich in England traf, von neuem in Verwirrung:
ich suchte mich in jede Gestalt, die mir auf-
stieß, hineinzustudiren, und darüber geschah es
denn unvermerkt, daß ich selbst manches von
dem Menschen annahm, den ich mir nur ver-
ständlich machen wollte; es ist dieselbe Erfah-
rung, die jeder Uebersetzer macht, der während
der Arbeit sein Original zu hoch anschlägt.

Ich betrat das Engliſche Ufer, um hier neue
Erfahrungen zu machen.

Klugheit.

Ich kam mit der feſten Ueberzeugung zu-
ruͤck, die Menſchen zu kennen. Ich hatte im
Laufe meines wilden Lebens nicht unterlaſſen,
ſie zu beobachten, aber ich war mir dieſer Be-
obachtungen viel zu ſehr bewußt, als daß ſie
haͤtten richtig ſeyn koͤnnen. Es iſt ſchwer, die
Menſchen in der Gegenwart zu kennen, weit
richtiger beurtheilt man ſie in der Entfernung,
wenn wir nach und nach die wahrgenommenen
Merkmale ſammeln. Ueber meine Freunde in
Italien fing ich daher an, ganz richtig zu den-
ken, und doch brachten mich die Menſchen, die
ich in England traf, von neuem in Verwirrung:
ich ſuchte mich in jede Geſtalt, die mir auf-
ſtieß, hineinzuſtudiren, und daruͤber geſchah es
denn unvermerkt, daß ich ſelbſt manches von
dem Menſchen annahm, den ich mir nur ver-
ſtaͤndlich machen wollte; es iſt dieſelbe Erfah-
rung, die jeder Ueberſetzer macht, der waͤhrend
der Arbeit ſein Original zu hoch anſchlaͤgt.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0427" n="420"/>
Ich betrat das Engli&#x017F;che Ufer, um hier neue<lb/>
Erfahrungen zu machen.</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head><hi rendition="#g">Klugheit</hi>.</head><lb/>
            <p>Ich kam mit der fe&#x017F;ten Ueberzeugung zu-<lb/>
ru&#x0364;ck, die Men&#x017F;chen zu kennen. Ich hatte im<lb/>
Laufe meines wilden Lebens nicht unterla&#x017F;&#x017F;en,<lb/>
&#x017F;ie zu beobachten, aber ich war mir die&#x017F;er Be-<lb/>
obachtungen viel zu &#x017F;ehr bewußt, als daß &#x017F;ie<lb/>
ha&#x0364;tten richtig &#x017F;eyn ko&#x0364;nnen. Es i&#x017F;t &#x017F;chwer, die<lb/>
Men&#x017F;chen in der Gegenwart zu kennen, weit<lb/>
richtiger beurtheilt man &#x017F;ie in der Entfernung,<lb/>
wenn wir nach und nach die wahrgenommenen<lb/>
Merkmale &#x017F;ammeln. Ueber meine Freunde in<lb/>
Italien fing ich daher an, ganz richtig zu den-<lb/>
ken, und doch brachten mich die Men&#x017F;chen, die<lb/>
ich in England traf, von neuem in Verwirrung:<lb/>
ich &#x017F;uchte mich in jede Ge&#x017F;talt, die mir auf-<lb/>
&#x017F;tieß, hineinzu&#x017F;tudiren, und daru&#x0364;ber ge&#x017F;chah es<lb/>
denn unvermerkt, daß ich &#x017F;elb&#x017F;t manches von<lb/>
dem Men&#x017F;chen annahm, den ich mir nur ver-<lb/>
&#x017F;ta&#x0364;ndlich machen wollte; es i&#x017F;t die&#x017F;elbe Erfah-<lb/>
rung, die jeder Ueber&#x017F;etzer macht, der wa&#x0364;hrend<lb/>
der Arbeit &#x017F;ein Original zu hoch an&#x017F;chla&#x0364;gt.</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[420/0427] Ich betrat das Engliſche Ufer, um hier neue Erfahrungen zu machen. Klugheit. Ich kam mit der feſten Ueberzeugung zu- ruͤck, die Menſchen zu kennen. Ich hatte im Laufe meines wilden Lebens nicht unterlaſſen, ſie zu beobachten, aber ich war mir dieſer Be- obachtungen viel zu ſehr bewußt, als daß ſie haͤtten richtig ſeyn koͤnnen. Es iſt ſchwer, die Menſchen in der Gegenwart zu kennen, weit richtiger beurtheilt man ſie in der Entfernung, wenn wir nach und nach die wahrgenommenen Merkmale ſammeln. Ueber meine Freunde in Italien fing ich daher an, ganz richtig zu den- ken, und doch brachten mich die Menſchen, die ich in England traf, von neuem in Verwirrung: ich ſuchte mich in jede Geſtalt, die mir auf- ſtieß, hineinzuſtudiren, und daruͤber geſchah es denn unvermerkt, daß ich ſelbſt manches von dem Menſchen annahm, den ich mir nur ver- ſtaͤndlich machen wollte; es iſt dieſelbe Erfah- rung, die jeder Ueberſetzer macht, der waͤhrend der Arbeit ſein Original zu hoch anſchlaͤgt.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell03_1796
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell03_1796/427
Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 3. Berlin u. a., 1796, S. 420. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell03_1796/427>, abgerufen am 22.11.2024.