Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.Einleitung. eckten Plätzen suchte man gern die Frühlings-sonne, die dichten Baumschatten waren zu Bö- gen gegen die Hitze gewölbt, verflochtene Lau- bengänge waren künstlich selbst mit unsichtbaren Käfigen umgeben, in denen Vögel aller Art in scheinbarer Freiheit schwärmten; die Springbrun- nen, die die Stille unterbrachen und wie Na- turmusik dazwischen redeten, und deren geord- nete Stralen und Ströme in vielfachen Linien aus Muscheln, Seepferden und Statuen von Wassergöttern sich ebenfalls nach Regeln erho- ben, dienten als phantastischer Schmuck dem wohl- berechneten Ganzen. Der bunte grünende Raum war Fortsetzung der Säle und Zimmer, für viele Gesellschaften geeignet, den mannigfaltigsten Sin- nen zubereitet, dem Geräusch und Prunk anpas- send, und auch in der Einsamkeit ein lieblicher Genuß, denn der Frohwandelnde, wie jener, der sich in stille Betrachtung senkt, fand nichts, was ihn störte und irrte, sondern die lebendige Na- tur umgab sie zauberisch in denselben Regeln, in denen der Mensch von Verstand und Vernunft, und der innern unsichtbaren Mathematik seines Wesens ewig umschlossen ist. Siehst du, liebe Mutter, sagte Clara, welche Alles, was ich sagen kann, fuhr Ernst fort, Einleitung. eckten Plaͤtzen ſuchte man gern die Fruͤhlings-ſonne, die dichten Baumſchatten waren zu Boͤ- gen gegen die Hitze gewoͤlbt, verflochtene Lau- bengaͤnge waren kuͤnſtlich ſelbſt mit unſichtbaren Kaͤfigen umgeben, in denen Voͤgel aller Art in ſcheinbarer Freiheit ſchwaͤrmten; die Springbrun- nen, die die Stille unterbrachen und wie Na- turmuſik dazwiſchen redeten, und deren geord- nete Stralen und Stroͤme in vielfachen Linien aus Muſcheln, Seepferden und Statuen von Waſſergoͤttern ſich ebenfalls nach Regeln erho- ben, dienten als phantaſtiſcher Schmuck dem wohl- berechneten Ganzen. Der bunte gruͤnende Raum war Fortſetzung der Saͤle und Zimmer, fuͤr viele Geſellſchaften geeignet, den mannigfaltigſten Sin- nen zubereitet, dem Geraͤuſch und Prunk anpaſ- ſend, und auch in der Einſamkeit ein lieblicher Genuß, denn der Frohwandelnde, wie jener, der ſich in ſtille Betrachtung ſenkt, fand nichts, was ihn ſtoͤrte und irrte, ſondern die lebendige Na- tur umgab ſie zauberiſch in denſelben Regeln, in denen der Menſch von Verſtand und Vernunft, und der innern unſichtbaren Mathematik ſeines Weſens ewig umſchloſſen iſt. Siehſt du, liebe Mutter, ſagte Clara, welche Alles, was ich ſagen kann, fuhr Ernſt fort, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0104" n="93"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Einleitung</hi>.</fw><lb/> eckten Plaͤtzen ſuchte man gern die Fruͤhlings-<lb/> ſonne, die dichten Baumſchatten waren zu Boͤ-<lb/> gen gegen die Hitze gewoͤlbt, verflochtene Lau-<lb/> bengaͤnge waren kuͤnſtlich ſelbſt mit unſichtbaren<lb/> Kaͤfigen umgeben, in denen Voͤgel aller Art in<lb/> ſcheinbarer Freiheit ſchwaͤrmten; die Springbrun-<lb/> nen, die die Stille unterbrachen und wie Na-<lb/> turmuſik dazwiſchen redeten, und deren geord-<lb/> nete Stralen und Stroͤme in vielfachen Linien<lb/> aus Muſcheln, Seepferden und Statuen von<lb/> Waſſergoͤttern ſich ebenfalls nach Regeln erho-<lb/> ben, dienten als phantaſtiſcher Schmuck dem wohl-<lb/> berechneten Ganzen. Der bunte gruͤnende Raum<lb/> war Fortſetzung der Saͤle und Zimmer, fuͤr viele<lb/> Geſellſchaften geeignet, den mannigfaltigſten Sin-<lb/> nen zubereitet, dem Geraͤuſch und Prunk anpaſ-<lb/> ſend, und auch in der Einſamkeit ein lieblicher<lb/> Genuß, denn der Frohwandelnde, wie jener, der<lb/> ſich in ſtille Betrachtung ſenkt, fand nichts, was<lb/> ihn ſtoͤrte und irrte, ſondern die lebendige Na-<lb/> tur umgab ſie zauberiſch in denſelben Regeln, in<lb/> denen der Menſch von Verſtand und Vernunft,<lb/> und der innern unſichtbaren Mathematik ſeines<lb/> Weſens ewig umſchloſſen iſt.</p><lb/> <p>Siehſt du, liebe Mutter, ſagte Clara, welche<lb/> philoſophiſche Miene unſer oft getadelte Garten<lb/> anzunehmen weiß, wenn er nur ſeinen Sachwal-<lb/> ter findet?</p><lb/> <p>Alles, was ich ſagen kann, fuhr Ernſt fort,<lb/> ſteht ſchon im Woldemar viel beſſer und gruͤnd-<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [93/0104]
Einleitung.
eckten Plaͤtzen ſuchte man gern die Fruͤhlings-
ſonne, die dichten Baumſchatten waren zu Boͤ-
gen gegen die Hitze gewoͤlbt, verflochtene Lau-
bengaͤnge waren kuͤnſtlich ſelbſt mit unſichtbaren
Kaͤfigen umgeben, in denen Voͤgel aller Art in
ſcheinbarer Freiheit ſchwaͤrmten; die Springbrun-
nen, die die Stille unterbrachen und wie Na-
turmuſik dazwiſchen redeten, und deren geord-
nete Stralen und Stroͤme in vielfachen Linien
aus Muſcheln, Seepferden und Statuen von
Waſſergoͤttern ſich ebenfalls nach Regeln erho-
ben, dienten als phantaſtiſcher Schmuck dem wohl-
berechneten Ganzen. Der bunte gruͤnende Raum
war Fortſetzung der Saͤle und Zimmer, fuͤr viele
Geſellſchaften geeignet, den mannigfaltigſten Sin-
nen zubereitet, dem Geraͤuſch und Prunk anpaſ-
ſend, und auch in der Einſamkeit ein lieblicher
Genuß, denn der Frohwandelnde, wie jener, der
ſich in ſtille Betrachtung ſenkt, fand nichts, was
ihn ſtoͤrte und irrte, ſondern die lebendige Na-
tur umgab ſie zauberiſch in denſelben Regeln, in
denen der Menſch von Verſtand und Vernunft,
und der innern unſichtbaren Mathematik ſeines
Weſens ewig umſchloſſen iſt.
Siehſt du, liebe Mutter, ſagte Clara, welche
philoſophiſche Miene unſer oft getadelte Garten
anzunehmen weiß, wenn er nur ſeinen Sachwal-
ter findet?
Alles, was ich ſagen kann, fuhr Ernſt fort,
ſteht ſchon im Woldemar viel beſſer und gruͤnd-
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Zitationshilfe: | Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 93. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/104>, abgerufen am 16.07.2024. |