Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.

Bild:
<< vorherige Seite

Einleitung.
und lockend schaut es uns an; es lacht mit uns,
wenn wir fröhlich sind, es klagt und schluchzt,
wenn wir trauern, es schwatzt und plaudert kin-
disch und thöricht, wenn wir uns zum Schwatzen
aufgelegt fühlen, kurz, es macht alles mit;
auch tönt ein rauschender Bach in der Einsam-
keit der Gebirge wohl wie ein Orakel, von dem
wir die prophetischen, tiefsinnigen Worte gern
verstehn lernen möchten. Wahrlich, kein Glaube
ist dem Menschen so natürlich, als der an Ni-
xen und Wassernymphen, und ich glaube auch,
daß wir ihn nie ganz ablegen.

Anton, der neben ihr saß, sah sie mit einem
freundlichen, fast begeisterten Blicke an, weil die-
ses Wort die theuerste Gegend seines heimlichen
Aberglaubens liebkosend besuchte; er wollte ihr
etwas erwiedern, als Ernst das Wort nahm
und sich so vernehmen ließ: nicht so willkühr-
lich, wie es auf den ersten Anblick scheinen möchte,
haben die ältesten Philosophen, so wie neuere
Mystiker, dem Wasser schaffende Kräfte und ein
geheimnißvolles Wesen zuschreiben wollen, denn
ich kenne nichts, was unsre Seele so ganz unmit-
telbar mit sich nimmt, als der Anblick eines
großen Stromes, oder gar des Meeres; ich weiß
nichts, was unsern Geist und unser Bewußtsein
so in sich reißt und verschlingt, wie das Schau-
spiel vom Sturz des Wassers, wie des Teverone
zu Tivoli, oder der Anblick des Rheinfalls. Dar-
um ermüdet und sättigt dieser wundervolle Ge-

Einleitung.
und lockend ſchaut es uns an; es lacht mit uns,
wenn wir froͤhlich ſind, es klagt und ſchluchzt,
wenn wir trauern, es ſchwatzt und plaudert kin-
diſch und thoͤricht, wenn wir uns zum Schwatzen
aufgelegt fuͤhlen, kurz, es macht alles mit;
auch toͤnt ein rauſchender Bach in der Einſam-
keit der Gebirge wohl wie ein Orakel, von dem
wir die prophetiſchen, tiefſinnigen Worte gern
verſtehn lernen moͤchten. Wahrlich, kein Glaube
iſt dem Menſchen ſo natuͤrlich, als der an Ni-
xen und Waſſernymphen, und ich glaube auch,
daß wir ihn nie ganz ablegen.

Anton, der neben ihr ſaß, ſah ſie mit einem
freundlichen, faſt begeiſterten Blicke an, weil die-
ſes Wort die theuerſte Gegend ſeines heimlichen
Aberglaubens liebkoſend beſuchte; er wollte ihr
etwas erwiedern, als Ernſt das Wort nahm
und ſich ſo vernehmen ließ: nicht ſo willkuͤhr-
lich, wie es auf den erſten Anblick ſcheinen moͤchte,
haben die aͤlteſten Philoſophen, ſo wie neuere
Myſtiker, dem Waſſer ſchaffende Kraͤfte und ein
geheimnißvolles Weſen zuſchreiben wollen, denn
ich kenne nichts, was unſre Seele ſo ganz unmit-
telbar mit ſich nimmt, als der Anblick eines
großen Stromes, oder gar des Meeres; ich weiß
nichts, was unſern Geiſt und unſer Bewußtſein
ſo in ſich reißt und verſchlingt, wie das Schau-
ſpiel vom Sturz des Waſſers, wie des Teverone
zu Tivoli, oder der Anblick des Rheinfalls. Dar-
um ermuͤdet und ſaͤttigt dieſer wundervolle Ge-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0114" n="103"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Einleitung</hi>.</fw><lb/>
und lockend &#x017F;chaut es uns an; es lacht mit uns,<lb/>
wenn wir fro&#x0364;hlich &#x017F;ind, es klagt und &#x017F;chluchzt,<lb/>
wenn wir trauern, es &#x017F;chwatzt und plaudert kin-<lb/>
di&#x017F;ch und tho&#x0364;richt, wenn wir uns zum Schwatzen<lb/>
aufgelegt fu&#x0364;hlen, kurz, es macht alles mit;<lb/>
auch to&#x0364;nt ein rau&#x017F;chender Bach in der Ein&#x017F;am-<lb/>
keit der Gebirge wohl wie ein Orakel, von dem<lb/>
wir die propheti&#x017F;chen, tief&#x017F;innigen Worte gern<lb/>
ver&#x017F;tehn lernen mo&#x0364;chten. Wahrlich, kein Glaube<lb/>
i&#x017F;t dem Men&#x017F;chen &#x017F;o natu&#x0364;rlich, als der an Ni-<lb/>
xen und Wa&#x017F;&#x017F;ernymphen, und ich glaube auch,<lb/>
daß wir ihn nie ganz ablegen.</p><lb/>
        <p>Anton, der neben ihr &#x017F;aß, &#x017F;ah &#x017F;ie mit einem<lb/>
freundlichen, fa&#x017F;t begei&#x017F;terten Blicke an, weil die-<lb/>
&#x017F;es Wort die theuer&#x017F;te Gegend &#x017F;eines heimlichen<lb/>
Aberglaubens liebko&#x017F;end be&#x017F;uchte; er wollte ihr<lb/>
etwas erwiedern, als Ern&#x017F;t das Wort nahm<lb/>
und &#x017F;ich &#x017F;o vernehmen ließ: nicht &#x017F;o willku&#x0364;hr-<lb/>
lich, wie es auf den er&#x017F;ten Anblick &#x017F;cheinen mo&#x0364;chte,<lb/>
haben die a&#x0364;lte&#x017F;ten Philo&#x017F;ophen, &#x017F;o wie neuere<lb/>
My&#x017F;tiker, dem Wa&#x017F;&#x017F;er &#x017F;chaffende Kra&#x0364;fte und ein<lb/>
geheimnißvolles We&#x017F;en zu&#x017F;chreiben wollen, denn<lb/>
ich kenne nichts, was un&#x017F;re Seele &#x017F;o ganz unmit-<lb/>
telbar mit &#x017F;ich nimmt, als der Anblick eines<lb/>
großen Stromes, oder gar des Meeres; ich weiß<lb/>
nichts, was un&#x017F;ern Gei&#x017F;t und un&#x017F;er Bewußt&#x017F;ein<lb/>
&#x017F;o in &#x017F;ich reißt und ver&#x017F;chlingt, wie das Schau-<lb/>
&#x017F;piel vom Sturz des Wa&#x017F;&#x017F;ers, wie des Teverone<lb/>
zu Tivoli, oder der Anblick des Rheinfalls. Dar-<lb/>
um ermu&#x0364;det und &#x017F;a&#x0364;ttigt die&#x017F;er wundervolle Ge-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[103/0114] Einleitung. und lockend ſchaut es uns an; es lacht mit uns, wenn wir froͤhlich ſind, es klagt und ſchluchzt, wenn wir trauern, es ſchwatzt und plaudert kin- diſch und thoͤricht, wenn wir uns zum Schwatzen aufgelegt fuͤhlen, kurz, es macht alles mit; auch toͤnt ein rauſchender Bach in der Einſam- keit der Gebirge wohl wie ein Orakel, von dem wir die prophetiſchen, tiefſinnigen Worte gern verſtehn lernen moͤchten. Wahrlich, kein Glaube iſt dem Menſchen ſo natuͤrlich, als der an Ni- xen und Waſſernymphen, und ich glaube auch, daß wir ihn nie ganz ablegen. Anton, der neben ihr ſaß, ſah ſie mit einem freundlichen, faſt begeiſterten Blicke an, weil die- ſes Wort die theuerſte Gegend ſeines heimlichen Aberglaubens liebkoſend beſuchte; er wollte ihr etwas erwiedern, als Ernſt das Wort nahm und ſich ſo vernehmen ließ: nicht ſo willkuͤhr- lich, wie es auf den erſten Anblick ſcheinen moͤchte, haben die aͤlteſten Philoſophen, ſo wie neuere Myſtiker, dem Waſſer ſchaffende Kraͤfte und ein geheimnißvolles Weſen zuſchreiben wollen, denn ich kenne nichts, was unſre Seele ſo ganz unmit- telbar mit ſich nimmt, als der Anblick eines großen Stromes, oder gar des Meeres; ich weiß nichts, was unſern Geiſt und unſer Bewußtſein ſo in ſich reißt und verſchlingt, wie das Schau- ſpiel vom Sturz des Waſſers, wie des Teverone zu Tivoli, oder der Anblick des Rheinfalls. Dar- um ermuͤdet und ſaͤttigt dieſer wundervolle Ge-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/114
Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 103. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/114>, abgerufen am 21.11.2024.