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Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.

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Einleitung.
Wahrheit trotz ihrer Freundlichkeit zu schmerz-
lich, eben weil sie so ganz das Wesen meines
Lebens ist.

Was ist es nur, fing Clara nach einiger
Zeit wieder an, das uns in der Heiligkeit des
Schmerzes oft wie im Triumph hoch, hoch hin-
auf hebt, und das uns, möcht' ich doch fast
sagen, mit der Angst eines Jubilirens befällt,
eines tiefen Mitleidens, einer so innigen Liebe,
eines solchen Gefühls, das wir nicht nennen
können, sondern daß wir nur gleich in Thränen
untergehn und sterben möchten? So ist es mir
oft gewesen, wenn ich im Plutarch von den
großen Menschen las, wie sie unglücklich sind
und wie sie ihre Leiden und den Tod erdulden,
oder wie Timoleon sein Glück und Schicksal
trägt. Das Leben möchte brechen vor Lust und
Schmerz, und wenn dann ein Fremder fragt:
was fehlt dir? so möchte man antworten: " o
ich habe eine Welt zu viel! Warum kann ich in
Demuth als Seufzer nicht für den verwehen,
den ich so innig verehren muß? "

Wer nicht auf diese Weise, sagte Friedrich,
das Evangelium lesen kann, der sollte es nie
lesen wollen, denn was kann er anders dort
finden, als die höchste Liebe und ihre heiligen
Schmerzen? Diese Begier sich aufzuopfern, sich
ganz, ganz hinzuwerfen dem geliebten Gegen-
stande unsrer Verehrung, ist das Höchste in uns;
es ruft aus uns über Jahrtausende hinüber:

Einleitung.
Wahrheit trotz ihrer Freundlichkeit zu ſchmerz-
lich, eben weil ſie ſo ganz das Weſen meines
Lebens iſt.

Was iſt es nur, fing Clara nach einiger
Zeit wieder an, das uns in der Heiligkeit des
Schmerzes oft wie im Triumph hoch, hoch hin-
auf hebt, und das uns, moͤcht' ich doch faſt
ſagen, mit der Angſt eines Jubilirens befaͤllt,
eines tiefen Mitleidens, einer ſo innigen Liebe,
eines ſolchen Gefuͤhls, das wir nicht nennen
koͤnnen, ſondern daß wir nur gleich in Thraͤnen
untergehn und ſterben moͤchten? So iſt es mir
oft geweſen, wenn ich im Plutarch von den
großen Menſchen las, wie ſie ungluͤcklich ſind
und wie ſie ihre Leiden und den Tod erdulden,
oder wie Timoleon ſein Gluͤck und Schickſal
traͤgt. Das Leben moͤchte brechen vor Luſt und
Schmerz, und wenn dann ein Fremder fragt:
was fehlt dir? ſo moͤchte man antworten: „ o
ich habe eine Welt zu viel! Warum kann ich in
Demuth als Seufzer nicht fuͤr den verwehen,
den ich ſo innig verehren muß? “

Wer nicht auf dieſe Weiſe, ſagte Friedrich,
das Evangelium leſen kann, der ſollte es nie
leſen wollen, denn was kann er anders dort
finden, als die hoͤchſte Liebe und ihre heiligen
Schmerzen? Dieſe Begier ſich aufzuopfern, ſich
ganz, ganz hinzuwerfen dem geliebten Gegen-
ſtande unſrer Verehrung, iſt das Hoͤchſte in uns;
es ruft aus uns uͤber Jahrtauſende hinuͤber:

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[108/0119] Einleitung. Wahrheit trotz ihrer Freundlichkeit zu ſchmerz- lich, eben weil ſie ſo ganz das Weſen meines Lebens iſt. Was iſt es nur, fing Clara nach einiger Zeit wieder an, das uns in der Heiligkeit des Schmerzes oft wie im Triumph hoch, hoch hin- auf hebt, und das uns, moͤcht' ich doch faſt ſagen, mit der Angſt eines Jubilirens befaͤllt, eines tiefen Mitleidens, einer ſo innigen Liebe, eines ſolchen Gefuͤhls, das wir nicht nennen koͤnnen, ſondern daß wir nur gleich in Thraͤnen untergehn und ſterben moͤchten? So iſt es mir oft geweſen, wenn ich im Plutarch von den großen Menſchen las, wie ſie ungluͤcklich ſind und wie ſie ihre Leiden und den Tod erdulden, oder wie Timoleon ſein Gluͤck und Schickſal traͤgt. Das Leben moͤchte brechen vor Luſt und Schmerz, und wenn dann ein Fremder fragt: was fehlt dir? ſo moͤchte man antworten: „ o ich habe eine Welt zu viel! Warum kann ich in Demuth als Seufzer nicht fuͤr den verwehen, den ich ſo innig verehren muß? “ Wer nicht auf dieſe Weiſe, ſagte Friedrich, das Evangelium leſen kann, der ſollte es nie leſen wollen, denn was kann er anders dort finden, als die hoͤchſte Liebe und ihre heiligen Schmerzen? Dieſe Begier ſich aufzuopfern, ſich ganz, ganz hinzuwerfen dem geliebten Gegen- ſtande unſrer Verehrung, iſt das Hoͤchſte in uns; es ruft aus uns uͤber Jahrtauſende hinuͤber:

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 108. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/119>, abgerufen am 21.11.2024.