dieser Wechsel den Reitz unseres Daseins aus- macht, so hat es mir immer geschienen, daß die geistigste und witzigste Entwickelung unserer Kräfte und unsers Individuums diejenige sei, uns selbst ganz in ein anderes Wesen hinein verloren zu geben, indem wir es mit aller Anstrengung un- srer geistigen Stimmung darzustellen suchen: mit einem Wort, wenn wir in einem guten Schau- spiel eine Rolle übernehmen und uns bestreben, die Erscheinung des Einzelnen wie des Ganzen mit der höchsten Wahrheit und in der vollkom- mensten Harmonie hervor zu bringen. Es giebt wohl auch nur wenige Menschen, die dem Reitz dieser Versuchung auf immer widerstehn können, und wenn das Talent des Schauspielers auch selten sein mag, so ist die Lust zur Mimik doch fast in allen Menschen thätig.
Wir haben diesem Triebe, fuhr Ernst fort, gewiß unendlich viel zu danken, unser innerli- cher Mensch ahmt oft lange einen Gedanken, oder die Vortreflichkeit einer Gesinnung, ja selbst eine Empfindung nur mimisch nach, bis wir, gerade wie die Kinder lernen, uns die Sache selbst durch Wiederholung und Angewöhnung zu eigen machen können.
Vergessen wir nur nicht, sagte Wilibald verdrüßlich, daß aus demselben Triebe auch alle Affektation, Ziererei, Unnatürlichkeit, kurz, alles äffische Wesen im Menschen entspringt, so daß diese Sucht wenigstens eben so schädlich ist, als
Einleitung.
dieſer Wechſel den Reitz unſeres Daſeins aus- macht, ſo hat es mir immer geſchienen, daß die geiſtigſte und witzigſte Entwickelung unſerer Kraͤfte und unſers Individuums diejenige ſei, uns ſelbſt ganz in ein anderes Weſen hinein verloren zu geben, indem wir es mit aller Anſtrengung un- ſrer geiſtigen Stimmung darzuſtellen ſuchen: mit einem Wort, wenn wir in einem guten Schau- ſpiel eine Rolle uͤbernehmen und uns beſtreben, die Erſcheinung des Einzelnen wie des Ganzen mit der hoͤchſten Wahrheit und in der vollkom- menſten Harmonie hervor zu bringen. Es giebt wohl auch nur wenige Menſchen, die dem Reitz dieſer Verſuchung auf immer widerſtehn koͤnnen, und wenn das Talent des Schauſpielers auch ſelten ſein mag, ſo iſt die Luſt zur Mimik doch faſt in allen Menſchen thaͤtig.
Wir haben dieſem Triebe, fuhr Ernſt fort, gewiß unendlich viel zu danken, unſer innerli- cher Menſch ahmt oft lange einen Gedanken, oder die Vortreflichkeit einer Geſinnung, ja ſelbſt eine Empfindung nur mimiſch nach, bis wir, gerade wie die Kinder lernen, uns die Sache ſelbſt durch Wiederholung und Angewoͤhnung zu eigen machen koͤnnen.
Vergeſſen wir nur nicht, ſagte Wilibald verdruͤßlich, daß aus demſelben Triebe auch alle Affektation, Ziererei, Unnatuͤrlichkeit, kurz, alles aͤffiſche Weſen im Menſchen entſpringt, ſo daß dieſe Sucht wenigſtens eben ſo ſchaͤdlich iſt, als
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Einleitung.
dieſer Wechſel den Reitz unſeres Daſeins aus-
macht, ſo hat es mir immer geſchienen, daß die
geiſtigſte und witzigſte Entwickelung unſerer Kraͤfte
und unſers Individuums diejenige ſei, uns ſelbſt
ganz in ein anderes Weſen hinein verloren zu
geben, indem wir es mit aller Anſtrengung un-
ſrer geiſtigen Stimmung darzuſtellen ſuchen: mit
einem Wort, wenn wir in einem guten Schau-
ſpiel eine Rolle uͤbernehmen und uns beſtreben,
die Erſcheinung des Einzelnen wie des Ganzen
mit der hoͤchſten Wahrheit und in der vollkom-
menſten Harmonie hervor zu bringen. Es giebt
wohl auch nur wenige Menſchen, die dem Reitz
dieſer Verſuchung auf immer widerſtehn koͤnnen,
und wenn das Talent des Schauſpielers auch
ſelten ſein mag, ſo iſt die Luſt zur Mimik doch
faſt in allen Menſchen thaͤtig.
Wir haben dieſem Triebe, fuhr Ernſt fort,
gewiß unendlich viel zu danken, unſer innerli-
cher Menſch ahmt oft lange einen Gedanken,
oder die Vortreflichkeit einer Geſinnung, ja ſelbſt
eine Empfindung nur mimiſch nach, bis wir,
gerade wie die Kinder lernen, uns die Sache
ſelbſt durch Wiederholung und Angewoͤhnung
zu eigen machen koͤnnen.
Vergeſſen wir nur nicht, ſagte Wilibald
verdruͤßlich, daß aus demſelben Triebe auch alle
Affektation, Ziererei, Unnatuͤrlichkeit, kurz, alles
aͤffiſche Weſen im Menſchen entſpringt, ſo daß
dieſe Sucht wenigſtens eben ſo ſchaͤdlich iſt, als
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Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 116. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/127>, abgerufen am 18.07.2024.
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