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Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.

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Dieses romantische Gebirge, sagte Ernst, erin-
nert mich lebhaft an einen der schönsten Tage
meines Lebens. In der heitersten Sommerszeit
hatte ich die Fahrt über den Lago maggiore ge-
macht und die Borromäischen Inseln besucht;
von einem kleinen Flecken am See ritt ich dann
mit dem frühsten Morgen nach Belinzona, das
mit seinen Zinnen und Thürmen auf Hügeln
und im engen Thal ganz alterthümlich sich dar-
stellt, und uns alte Sagen und Geschichten wun-
derlich vergegenwärtigt, und von dort reisete ich
am Nachmittage ab, um am folgenden Tage den
Weg über den Sankt Gotthard anzutreten. Am
Fuße dieses Berges liegt äußerst anmuthig Giar-
nito, und einige Stunden vorher führt dich
der Weg durch das reizendste Thal, in welchem
Weingebirge und Wald auf das mannigfaltigste
wechselt, und von allen Bergen große und kleine
Wasserfälle klingend und wie musizirend nieder-
tanzen; immer enger rücken die Felsen zusam-
men, je mehr du dich dem Orte näherst, und
endlich ziehn sich Weinlauben über dir hinweg
von Berg zu Berg, und verdecken von Zeit zu


Dieſes romantiſche Gebirge, ſagte Ernſt, erin-
nert mich lebhaft an einen der ſchoͤnſten Tage
meines Lebens. In der heiterſten Sommerszeit
hatte ich die Fahrt uͤber den Lago maggiore ge-
macht und die Borromaͤiſchen Inſeln beſucht;
von einem kleinen Flecken am See ritt ich dann
mit dem fruͤhſten Morgen nach Belinzona, das
mit ſeinen Zinnen und Thuͤrmen auf Huͤgeln
und im engen Thal ganz alterthuͤmlich ſich dar-
ſtellt, und uns alte Sagen und Geſchichten wun-
derlich vergegenwaͤrtigt, und von dort reiſete ich
am Nachmittage ab, um am folgenden Tage den
Weg uͤber den Sankt Gotthard anzutreten. Am
Fuße dieſes Berges liegt aͤußerſt anmuthig Giar-
nito, und einige Stunden vorher fuͤhrt dich
der Weg durch das reizendſte Thal, in welchem
Weingebirge und Wald auf das mannigfaltigſte
wechſelt, und von allen Bergen große und kleine
Waſſerfaͤlle klingend und wie muſizirend nieder-
tanzen; immer enger ruͤcken die Felſen zuſam-
men, je mehr du dich dem Orte naͤherſt, und
endlich ziehn ſich Weinlauben uͤber dir hinweg
von Berg zu Berg, und verdecken von Zeit zu

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[[3]/0014] Dieſes romantiſche Gebirge, ſagte Ernſt, erin- nert mich lebhaft an einen der ſchoͤnſten Tage meines Lebens. In der heiterſten Sommerszeit hatte ich die Fahrt uͤber den Lago maggiore ge- macht und die Borromaͤiſchen Inſeln beſucht; von einem kleinen Flecken am See ritt ich dann mit dem fruͤhſten Morgen nach Belinzona, das mit ſeinen Zinnen und Thuͤrmen auf Huͤgeln und im engen Thal ganz alterthuͤmlich ſich dar- ſtellt, und uns alte Sagen und Geſchichten wun- derlich vergegenwaͤrtigt, und von dort reiſete ich am Nachmittage ab, um am folgenden Tage den Weg uͤber den Sankt Gotthard anzutreten. Am Fuße dieſes Berges liegt aͤußerſt anmuthig Giar- nito, und einige Stunden vorher fuͤhrt dich der Weg durch das reizendſte Thal, in welchem Weingebirge und Wald auf das mannigfaltigſte wechſelt, und von allen Bergen große und kleine Waſſerfaͤlle klingend und wie muſizirend nieder- tanzen; immer enger ruͤcken die Felſen zuſam- men, je mehr du dich dem Orte naͤherſt, und endlich ziehn ſich Weinlauben uͤber dir hinweg von Berg zu Berg, und verdecken von Zeit zu

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. [3]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/14>, abgerufen am 21.11.2024.