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Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.

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Erste Abtheilung.
Kindheit, aus welchen Bildern, die man im
Lesen, oder oft aus ganz unbedeutenden münd-
lichen Erzählungen aufgreift, dergleichen soge-
nannte Erfindungen zusammengesetzt werden, so
könnte man daraus wieder eine Art von seltsa-
mer, mährchenartiger Geschichte bilden.

Es ist ängstlich, sagte Ernst, dergleichen
Kleinigkeiten zu gründlich zu nehmen. Ich er-
innere mich mancher Gesellschaft, in der spitz-
und salzlose Anekdoten schlecht vorgetragen wur-
den, die man nachher eben so unwitzig kritisirte,
mit Schrecken, und wenn auch etwas ähnliches
hier nicht zu besorgen steht, so wünschte ich doch
wohl, daß unsre schönen Richterinnen sich nicht
zu eifrig um den Grund und Boden bekümmern
möchten, auf welchen unsre Poesien gewachsen
sind; ein wesenloser Traum büßt durch geringe
Störung zu leicht seine ganze Wirkung ein.

Daß ich fragte, antwortete Clara, geschah
nicht aus kritischem Interesse, sondern weil ich,
was vielleicht Schwäche sein mag, auf die ur-
sprüngliche Erfindung einer Dichtung sehr viel
halte, denn die Kraft des Erfindens scheint mir,
mit aller Ehrfurcht von der übrigen Kunst ge-
sprochen, etwas so eigenthümliches, daß ich mich
für denjenigen Dichter besonders interessire, wel-
cher nicht nachahmt, sondern zum erstenmal ein
Ding vorträgt, welches unsre Imagination er-
greift. Beim dramatischen Dichter, wenn er es
wahrhaft ist, tritt wohl eine andere Erfindungs-
kunst ein, als beim erzählenden, denn freilich

Erſte Abtheilung.
Kindheit, aus welchen Bildern, die man im
Leſen, oder oft aus ganz unbedeutenden muͤnd-
lichen Erzaͤhlungen aufgreift, dergleichen ſoge-
nannte Erfindungen zuſammengeſetzt werden, ſo
koͤnnte man daraus wieder eine Art von ſeltſa-
mer, maͤhrchenartiger Geſchichte bilden.

Es iſt aͤngſtlich, ſagte Ernſt, dergleichen
Kleinigkeiten zu gruͤndlich zu nehmen. Ich er-
innere mich mancher Geſellſchaft, in der ſpitz-
und ſalzloſe Anekdoten ſchlecht vorgetragen wur-
den, die man nachher eben ſo unwitzig kritiſirte,
mit Schrecken, und wenn auch etwas aͤhnliches
hier nicht zu beſorgen ſteht, ſo wuͤnſchte ich doch
wohl, daß unſre ſchoͤnen Richterinnen ſich nicht
zu eifrig um den Grund und Boden bekuͤmmern
moͤchten, auf welchen unſre Poeſien gewachſen
ſind; ein weſenloſer Traum buͤßt durch geringe
Stoͤrung zu leicht ſeine ganze Wirkung ein.

Daß ich fragte, antwortete Clara, geſchah
nicht aus kritiſchem Intereſſe, ſondern weil ich,
was vielleicht Schwaͤche ſein mag, auf die ur-
ſpruͤngliche Erfindung einer Dichtung ſehr viel
halte, denn die Kraft des Erfindens ſcheint mir,
mit aller Ehrfurcht von der uͤbrigen Kunſt ge-
ſprochen, etwas ſo eigenthuͤmliches, daß ich mich
fuͤr denjenigen Dichter beſonders intereſſire, wel-
cher nicht nachahmt, ſondern zum erſtenmal ein
Ding vortraͤgt, welches unſre Imagination er-
greift. Beim dramatiſchen Dichter, wenn er es
wahrhaft iſt, tritt wohl eine andere Erfindungs-
kunſt ein, als beim erzaͤhlenden, denn freilich

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[194/0205] Erſte Abtheilung. Kindheit, aus welchen Bildern, die man im Leſen, oder oft aus ganz unbedeutenden muͤnd- lichen Erzaͤhlungen aufgreift, dergleichen ſoge- nannte Erfindungen zuſammengeſetzt werden, ſo koͤnnte man daraus wieder eine Art von ſeltſa- mer, maͤhrchenartiger Geſchichte bilden. Es iſt aͤngſtlich, ſagte Ernſt, dergleichen Kleinigkeiten zu gruͤndlich zu nehmen. Ich er- innere mich mancher Geſellſchaft, in der ſpitz- und ſalzloſe Anekdoten ſchlecht vorgetragen wur- den, die man nachher eben ſo unwitzig kritiſirte, mit Schrecken, und wenn auch etwas aͤhnliches hier nicht zu beſorgen ſteht, ſo wuͤnſchte ich doch wohl, daß unſre ſchoͤnen Richterinnen ſich nicht zu eifrig um den Grund und Boden bekuͤmmern moͤchten, auf welchen unſre Poeſien gewachſen ſind; ein weſenloſer Traum buͤßt durch geringe Stoͤrung zu leicht ſeine ganze Wirkung ein. Daß ich fragte, antwortete Clara, geſchah nicht aus kritiſchem Intereſſe, ſondern weil ich, was vielleicht Schwaͤche ſein mag, auf die ur- ſpruͤngliche Erfindung einer Dichtung ſehr viel halte, denn die Kraft des Erfindens ſcheint mir, mit aller Ehrfurcht von der uͤbrigen Kunſt ge- ſprochen, etwas ſo eigenthuͤmliches, daß ich mich fuͤr denjenigen Dichter beſonders intereſſire, wel- cher nicht nachahmt, ſondern zum erſtenmal ein Ding vortraͤgt, welches unſre Imagination er- greift. Beim dramatiſchen Dichter, wenn er es wahrhaft iſt, tritt wohl eine andere Erfindungs- kunſt ein, als beim erzaͤhlenden, denn freilich

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 194. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/205>, abgerufen am 21.11.2024.