Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.Einleitung. deutsche Alterthum erinnert, und mit tiefem Sinnund Kenntniß manchen Irrthum entfernt, auch hat sich die Stimmung unsrer Zeit auffallend zum Bessern verändert, wir achten die deutsche Vorzeit und ihre Denkmäler, wir schämen uns nicht mehr, wie ehemals, Deutsche zu sein, und glauben nicht unbedingt mehr an die Vorzüge fremder Nationen, das ökonomische Treiben, die Verehrung kleinlicher List, die Vergötterung der neusten Zeit ist fast erstorben, eine höhere Sehn- sucht hat unsern Blick in die Vergangenheit ge- schärft, und Unglück für vergangene große Jahr- hunderte den edlern Sinn in uns aufgeschlossen. In jenen früheren Tagen aber hatten wir noch mehr Ueberreste der alten Zeit selbst vor uns, man fand noch Klöster, geistliche Fürstenthümer, freie Reichsstädte, viele alte Gebäude waren noch nicht abgetragen oder zerstört, altdeutsche Kunst- werke noch nicht verschleppt, manche Sitte noch aus dem Mittelalter herüber gebracht, die Volks- feste hatten noch mehr Charakter und Fröhlich- keit, und man brauchte nur wenige Meilen zu reisen, um andre Gewohnheiten, Gebäude und Verfassungen anzutreffen. Alle diese Mannigfal- tigkeit zu sehn, zu fühlen und in ein Gemählde darzustellen war damals mein Vorsatz, was unsre Nation an eigenthümlicher Mahlerei, Sculptur und Architektur besitzt, welche Sitten und Ver- fassungen jeder Provinz und Stadt eigen, und wie sie entstanden, zu erforschen, um den Miß- Einleitung. deutſche Alterthum erinnert, und mit tiefem Sinnund Kenntniß manchen Irrthum entfernt, auch hat ſich die Stimmung unſrer Zeit auffallend zum Beſſern veraͤndert, wir achten die deutſche Vorzeit und ihre Denkmaͤler, wir ſchaͤmen uns nicht mehr, wie ehemals, Deutſche zu ſein, und glauben nicht unbedingt mehr an die Vorzuͤge fremder Nationen, das oͤkonomiſche Treiben, die Verehrung kleinlicher Liſt, die Vergoͤtterung der neuſten Zeit iſt faſt erſtorben, eine hoͤhere Sehn- ſucht hat unſern Blick in die Vergangenheit ge- ſchaͤrft, und Ungluͤck fuͤr vergangene große Jahr- hunderte den edlern Sinn in uns aufgeſchloſſen. In jenen fruͤheren Tagen aber hatten wir noch mehr Ueberreſte der alten Zeit ſelbſt vor uns, man fand noch Kloͤſter, geiſtliche Fuͤrſtenthuͤmer, freie Reichsſtaͤdte, viele alte Gebaͤude waren noch nicht abgetragen oder zerſtoͤrt, altdeutſche Kunſt- werke noch nicht verſchleppt, manche Sitte noch aus dem Mittelalter heruͤber gebracht, die Volks- feſte hatten noch mehr Charakter und Froͤhlich- keit, und man brauchte nur wenige Meilen zu reiſen, um andre Gewohnheiten, Gebaͤude und Verfaſſungen anzutreffen. Alle dieſe Mannigfal- tigkeit zu ſehn, zu fuͤhlen und in ein Gemaͤhlde darzuſtellen war damals mein Vorſatz, was unſre Nation an eigenthuͤmlicher Mahlerei, Sculptur und Architektur beſitzt, welche Sitten und Ver- faſſungen jeder Provinz und Stadt eigen, und wie ſie entſtanden, zu erforſchen, um den Miß- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0023" n="12"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Einleitung</hi>.</fw><lb/> deutſche Alterthum erinnert, und mit tiefem Sinn<lb/> und Kenntniß manchen Irrthum entfernt, auch<lb/> hat ſich die Stimmung unſrer Zeit auffallend<lb/> zum Beſſern veraͤndert, wir achten die deutſche<lb/> Vorzeit und ihre Denkmaͤler, wir ſchaͤmen uns<lb/> nicht mehr, wie ehemals, Deutſche zu ſein, und<lb/> glauben nicht unbedingt mehr an die Vorzuͤge<lb/> fremder Nationen, das oͤkonomiſche Treiben, die<lb/> Verehrung kleinlicher Liſt, die Vergoͤtterung der<lb/> neuſten Zeit iſt faſt erſtorben, eine hoͤhere Sehn-<lb/> ſucht hat unſern Blick in die Vergangenheit ge-<lb/> ſchaͤrft, und Ungluͤck fuͤr vergangene große Jahr-<lb/> hunderte den edlern Sinn in uns aufgeſchloſſen.<lb/> In jenen fruͤheren Tagen aber hatten wir noch<lb/> mehr Ueberreſte der alten Zeit ſelbſt vor uns,<lb/> man fand noch Kloͤſter, geiſtliche Fuͤrſtenthuͤmer,<lb/> freie Reichsſtaͤdte, viele alte Gebaͤude waren noch<lb/> nicht abgetragen oder zerſtoͤrt, altdeutſche Kunſt-<lb/> werke noch nicht verſchleppt, manche Sitte noch<lb/> aus dem Mittelalter heruͤber gebracht, die Volks-<lb/> feſte hatten noch mehr Charakter und Froͤhlich-<lb/> keit, und man brauchte nur wenige Meilen zu<lb/> reiſen, um andre Gewohnheiten, Gebaͤude und<lb/> Verfaſſungen anzutreffen. Alle dieſe Mannigfal-<lb/> tigkeit zu ſehn, zu fuͤhlen und in ein Gemaͤhlde<lb/> darzuſtellen war damals mein Vorſatz, was unſre<lb/> Nation an eigenthuͤmlicher Mahlerei, Sculptur<lb/> und Architektur beſitzt, welche Sitten und Ver-<lb/> faſſungen jeder Provinz und Stadt eigen, und<lb/> wie ſie entſtanden, zu erforſchen, um den Miß-<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [12/0023]
Einleitung.
deutſche Alterthum erinnert, und mit tiefem Sinn
und Kenntniß manchen Irrthum entfernt, auch
hat ſich die Stimmung unſrer Zeit auffallend
zum Beſſern veraͤndert, wir achten die deutſche
Vorzeit und ihre Denkmaͤler, wir ſchaͤmen uns
nicht mehr, wie ehemals, Deutſche zu ſein, und
glauben nicht unbedingt mehr an die Vorzuͤge
fremder Nationen, das oͤkonomiſche Treiben, die
Verehrung kleinlicher Liſt, die Vergoͤtterung der
neuſten Zeit iſt faſt erſtorben, eine hoͤhere Sehn-
ſucht hat unſern Blick in die Vergangenheit ge-
ſchaͤrft, und Ungluͤck fuͤr vergangene große Jahr-
hunderte den edlern Sinn in uns aufgeſchloſſen.
In jenen fruͤheren Tagen aber hatten wir noch
mehr Ueberreſte der alten Zeit ſelbſt vor uns,
man fand noch Kloͤſter, geiſtliche Fuͤrſtenthuͤmer,
freie Reichsſtaͤdte, viele alte Gebaͤude waren noch
nicht abgetragen oder zerſtoͤrt, altdeutſche Kunſt-
werke noch nicht verſchleppt, manche Sitte noch
aus dem Mittelalter heruͤber gebracht, die Volks-
feſte hatten noch mehr Charakter und Froͤhlich-
keit, und man brauchte nur wenige Meilen zu
reiſen, um andre Gewohnheiten, Gebaͤude und
Verfaſſungen anzutreffen. Alle dieſe Mannigfal-
tigkeit zu ſehn, zu fuͤhlen und in ein Gemaͤhlde
darzuſtellen war damals mein Vorſatz, was unſre
Nation an eigenthuͤmlicher Mahlerei, Sculptur
und Architektur beſitzt, welche Sitten und Ver-
faſſungen jeder Provinz und Stadt eigen, und
wie ſie entſtanden, zu erforſchen, um den Miß-
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