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Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.

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Der getreue Eckart.
schwere Ladung meiner Sünden ablegen, oder im
Druck erliegen und verzweifelnd sterben.

Friedrich wollte ihn trösten, doch schien der
Tannenhäuser auf seine Reden nicht sonderlich Acht
zu geben, sondern fuhr nach einer kleinen Weile
mit folgenden Worten fort: Man hat ein altes
Mährchen, daß vor vielen Jahrhunderten ein Rit-
ter mit dem Namen des getreuen Eckart gelebt
habe, man erzählt, wie damals aus einem seltsa-
men Berge ein Spielmann gekommen sei, dessen
wunderbarliche Töne so tiefe Sehnsucht, so wilde
Wünsche in den Herzen aller Hörenden auferweckt
haben, daß sie unwiderstreblich den Klängen nach-
gerissen worden, um sich in jenem Gebirge zu ver-
lieren. Die Hölle hat damals ihre Porten den
armen Menschen weit aufgethan, und sie mit lieb-
licher Musik zu sich herein gespielt. Ich hörte als
Knabe diese Erzählung oft und wurde nicht son-
derlich davon gerührt, doch währte es nicht lange,
so erinnerte mich die ganze Natur, jedweder Klang,
jedwede Blume an die Sage von diesen herzergrei-
fenden Tönen. Ich kann dir nicht ausdrücken,
welche Wehmuth, welche unaussprechliche Sehn-
sucht mich plötzlich ergriff, und wie in Banden
hielt und fortführen wollte, wenn ich dem Zug der
Wolken nachsahe, die lichte herrliche Bläue erblickte,
die zwischen ihnen hervordrang, welche Erinnerun-
gen Wies' und Wald in meinem tiefsten Herzen
erwecken wollten. Oft ergriff mich die Lieblichkeit
und Fülle der herrlichen Natur, daß ich die Arme
ausstreckte und wie mit Flügeln hineinstreben wollte,

I. [15]

Der getreue Eckart.
ſchwere Ladung meiner Suͤnden ablegen, oder im
Druck erliegen und verzweifelnd ſterben.

Friedrich wollte ihn troͤſten, doch ſchien der
Tannenhaͤuſer auf ſeine Reden nicht ſonderlich Acht
zu geben, ſondern fuhr nach einer kleinen Weile
mit folgenden Worten fort: Man hat ein altes
Maͤhrchen, daß vor vielen Jahrhunderten ein Rit-
ter mit dem Namen des getreuen Eckart gelebt
habe, man erzaͤhlt, wie damals aus einem ſeltſa-
men Berge ein Spielmann gekommen ſei, deſſen
wunderbarliche Toͤne ſo tiefe Sehnſucht, ſo wilde
Wuͤnſche in den Herzen aller Hoͤrenden auferweckt
haben, daß ſie unwiderſtreblich den Klaͤngen nach-
geriſſen worden, um ſich in jenem Gebirge zu ver-
lieren. Die Hoͤlle hat damals ihre Porten den
armen Menſchen weit aufgethan, und ſie mit lieb-
licher Muſik zu ſich herein geſpielt. Ich hoͤrte als
Knabe dieſe Erzaͤhlung oft und wurde nicht ſon-
derlich davon geruͤhrt, doch waͤhrte es nicht lange,
ſo erinnerte mich die ganze Natur, jedweder Klang,
jedwede Blume an die Sage von dieſen herzergrei-
fenden Toͤnen. Ich kann dir nicht ausdruͤcken,
welche Wehmuth, welche unausſprechliche Sehn-
ſucht mich ploͤtzlich ergriff, und wie in Banden
hielt und fortfuͤhren wollte, wenn ich dem Zug der
Wolken nachſahe, die lichte herrliche Blaͤue erblickte,
die zwiſchen ihnen hervordrang, welche Erinnerun-
gen Wieſ' und Wald in meinem tiefſten Herzen
erwecken wollten. Oft ergriff mich die Lieblichkeit
und Fuͤlle der herrlichen Natur, daß ich die Arme
ausſtreckte und wie mit Fluͤgeln hineinſtreben wollte,

I. [15]
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[225/0236] Der getreue Eckart. ſchwere Ladung meiner Suͤnden ablegen, oder im Druck erliegen und verzweifelnd ſterben. Friedrich wollte ihn troͤſten, doch ſchien der Tannenhaͤuſer auf ſeine Reden nicht ſonderlich Acht zu geben, ſondern fuhr nach einer kleinen Weile mit folgenden Worten fort: Man hat ein altes Maͤhrchen, daß vor vielen Jahrhunderten ein Rit- ter mit dem Namen des getreuen Eckart gelebt habe, man erzaͤhlt, wie damals aus einem ſeltſa- men Berge ein Spielmann gekommen ſei, deſſen wunderbarliche Toͤne ſo tiefe Sehnſucht, ſo wilde Wuͤnſche in den Herzen aller Hoͤrenden auferweckt haben, daß ſie unwiderſtreblich den Klaͤngen nach- geriſſen worden, um ſich in jenem Gebirge zu ver- lieren. Die Hoͤlle hat damals ihre Porten den armen Menſchen weit aufgethan, und ſie mit lieb- licher Muſik zu ſich herein geſpielt. Ich hoͤrte als Knabe dieſe Erzaͤhlung oft und wurde nicht ſon- derlich davon geruͤhrt, doch waͤhrte es nicht lange, ſo erinnerte mich die ganze Natur, jedweder Klang, jedwede Blume an die Sage von dieſen herzergrei- fenden Toͤnen. Ich kann dir nicht ausdruͤcken, welche Wehmuth, welche unausſprechliche Sehn- ſucht mich ploͤtzlich ergriff, und wie in Banden hielt und fortfuͤhren wollte, wenn ich dem Zug der Wolken nachſahe, die lichte herrliche Blaͤue erblickte, die zwiſchen ihnen hervordrang, welche Erinnerun- gen Wieſ' und Wald in meinem tiefſten Herzen erwecken wollten. Oft ergriff mich die Lieblichkeit und Fuͤlle der herrlichen Natur, daß ich die Arme ausſtreckte und wie mit Fluͤgeln hineinſtreben wollte, I. [15]

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 225. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/236>, abgerufen am 24.11.2024.