Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.

Bild:
<< vorherige Seite

Der Runenberg.
ward immer trübseliger, er mochte nicht nach sei-
nem Vogelheerde zurück kehren, und dennoch mochte
er nicht bleiben; es dünkte ihm so einsam und er
sehnte sich nach Menschen. Jetzt wünschte er sich
die alten Bücher, die er sonst bei seinem Vater
gesehn, und die er niemals lesen mögen, so oft
ihn auch der Vater dazu angetrieben hatte; es fie-
len ihm die Scenen seiner Kindheit ein, die Spiele
mit der Jugend des Dorfes, seine Bekanntschaften
unter den Kindern, die Schule, die ihm so drük-
kend gewesen war, und er sehnte sich in alle diese
Umgebungen zurück, die er freiwillig verlassen hatte,
um sein Glück in unbekannten Gegenden, in Ber-
gen, unter fremden Menschen, in einer neuen Be-
schäftigung zu finden. Indem es finstrer wurde,
und der Bach lauter rauschte, und das Geflügel
der Nacht seine irre Wanderung mit umschweifen-
dem Fluge begann, saß er noch immer mißvergnügt
und in sich versunken; er hätte weinen mögen, und
er war durchaus unentschlossen, was er thun und
vornehmen solle. Gedankenlos zog er eine hervor-
ragende Wurzel aus der Erde, und plötzlich hörte
er schreckend ein dumpfes Winseln im Boden, das
sich unterirdisch in klagenden Tönen fortzog, und
erst in der Ferne wehmüthig verscholl. Der Ton
durchdrang sein innerstes Herz, er ergriff ihn, als
wenn er unvermuthet die Wunde berührt habe, an
der der sterbende Leichnam der Natur in Schmer-
zen verscheiden wolle. Er sprang auf und wollte
entfliehen, denn er hatte wohl ehemals von der
seltsamen Alrunenwurzel gehört, die beim Ausrei-

I. [16]

Der Runenberg.
ward immer truͤbſeliger, er mochte nicht nach ſei-
nem Vogelheerde zuruͤck kehren, und dennoch mochte
er nicht bleiben; es duͤnkte ihm ſo einſam und er
ſehnte ſich nach Menſchen. Jetzt wuͤnſchte er ſich
die alten Buͤcher, die er ſonſt bei ſeinem Vater
geſehn, und die er niemals leſen moͤgen, ſo oft
ihn auch der Vater dazu angetrieben hatte; es fie-
len ihm die Scenen ſeiner Kindheit ein, die Spiele
mit der Jugend des Dorfes, ſeine Bekanntſchaften
unter den Kindern, die Schule, die ihm ſo druͤk-
kend geweſen war, und er ſehnte ſich in alle dieſe
Umgebungen zuruͤck, die er freiwillig verlaſſen hatte,
um ſein Gluͤck in unbekannten Gegenden, in Ber-
gen, unter fremden Menſchen, in einer neuen Be-
ſchaͤftigung zu finden. Indem es finſtrer wurde,
und der Bach lauter rauſchte, und das Gefluͤgel
der Nacht ſeine irre Wanderung mit umſchweifen-
dem Fluge begann, ſaß er noch immer mißvergnuͤgt
und in ſich verſunken; er haͤtte weinen moͤgen, und
er war durchaus unentſchloſſen, was er thun und
vornehmen ſolle. Gedankenlos zog er eine hervor-
ragende Wurzel aus der Erde, und ploͤtzlich hoͤrte
er ſchreckend ein dumpfes Winſeln im Boden, das
ſich unterirdiſch in klagenden Toͤnen fortzog, und
erſt in der Ferne wehmuͤthig verſcholl. Der Ton
durchdrang ſein innerſtes Herz, er ergriff ihn, als
wenn er unvermuthet die Wunde beruͤhrt habe, an
der der ſterbende Leichnam der Natur in Schmer-
zen verſcheiden wolle. Er ſprang auf und wollte
entfliehen, denn er hatte wohl ehemals von der
ſeltſamen Alrunenwurzel gehoͤrt, die beim Ausrei-

I. [16]
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0252" n="241"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Der Runenberg</hi>.</fw><lb/>
ward immer tru&#x0364;b&#x017F;eliger, er mochte nicht nach &#x017F;ei-<lb/>
nem Vogelheerde zuru&#x0364;ck kehren, und dennoch mochte<lb/>
er nicht bleiben; es du&#x0364;nkte ihm &#x017F;o ein&#x017F;am und er<lb/>
&#x017F;ehnte &#x017F;ich nach Men&#x017F;chen. Jetzt wu&#x0364;n&#x017F;chte er &#x017F;ich<lb/>
die alten Bu&#x0364;cher, die er &#x017F;on&#x017F;t bei &#x017F;einem Vater<lb/>
ge&#x017F;ehn, und die er niemals le&#x017F;en mo&#x0364;gen, &#x017F;o oft<lb/>
ihn auch der Vater dazu angetrieben hatte; es fie-<lb/>
len ihm die Scenen &#x017F;einer Kindheit ein, die Spiele<lb/>
mit der Jugend des Dorfes, &#x017F;eine Bekannt&#x017F;chaften<lb/>
unter den Kindern, die Schule, die ihm &#x017F;o dru&#x0364;k-<lb/>
kend gewe&#x017F;en war, und er &#x017F;ehnte &#x017F;ich in alle die&#x017F;e<lb/>
Umgebungen zuru&#x0364;ck, die er freiwillig verla&#x017F;&#x017F;en hatte,<lb/>
um &#x017F;ein Glu&#x0364;ck in unbekannten Gegenden, in Ber-<lb/>
gen, unter fremden Men&#x017F;chen, in einer neuen Be-<lb/>
&#x017F;cha&#x0364;ftigung zu finden. Indem es fin&#x017F;trer wurde,<lb/>
und der Bach lauter rau&#x017F;chte, und das Geflu&#x0364;gel<lb/>
der Nacht &#x017F;eine irre Wanderung mit um&#x017F;chweifen-<lb/>
dem Fluge begann, &#x017F;aß er noch immer mißvergnu&#x0364;gt<lb/>
und in &#x017F;ich ver&#x017F;unken; er ha&#x0364;tte weinen mo&#x0364;gen, und<lb/>
er war durchaus unent&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en, was er thun und<lb/>
vornehmen &#x017F;olle. Gedankenlos zog er eine hervor-<lb/>
ragende Wurzel aus der Erde, und plo&#x0364;tzlich ho&#x0364;rte<lb/>
er &#x017F;chreckend ein dumpfes Win&#x017F;eln im Boden, das<lb/>
&#x017F;ich unterirdi&#x017F;ch in klagenden To&#x0364;nen fortzog, und<lb/>
er&#x017F;t in der Ferne wehmu&#x0364;thig ver&#x017F;choll. Der Ton<lb/>
durchdrang &#x017F;ein inner&#x017F;tes Herz, er ergriff ihn, als<lb/>
wenn er unvermuthet die Wunde beru&#x0364;hrt habe, an<lb/>
der der &#x017F;terbende Leichnam der Natur in Schmer-<lb/>
zen ver&#x017F;cheiden wolle. Er &#x017F;prang auf und wollte<lb/>
entfliehen, denn er hatte wohl ehemals von der<lb/>
&#x017F;elt&#x017F;amen Alrunenwurzel geho&#x0364;rt, die beim Ausrei-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">I. [16]</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[241/0252] Der Runenberg. ward immer truͤbſeliger, er mochte nicht nach ſei- nem Vogelheerde zuruͤck kehren, und dennoch mochte er nicht bleiben; es duͤnkte ihm ſo einſam und er ſehnte ſich nach Menſchen. Jetzt wuͤnſchte er ſich die alten Buͤcher, die er ſonſt bei ſeinem Vater geſehn, und die er niemals leſen moͤgen, ſo oft ihn auch der Vater dazu angetrieben hatte; es fie- len ihm die Scenen ſeiner Kindheit ein, die Spiele mit der Jugend des Dorfes, ſeine Bekanntſchaften unter den Kindern, die Schule, die ihm ſo druͤk- kend geweſen war, und er ſehnte ſich in alle dieſe Umgebungen zuruͤck, die er freiwillig verlaſſen hatte, um ſein Gluͤck in unbekannten Gegenden, in Ber- gen, unter fremden Menſchen, in einer neuen Be- ſchaͤftigung zu finden. Indem es finſtrer wurde, und der Bach lauter rauſchte, und das Gefluͤgel der Nacht ſeine irre Wanderung mit umſchweifen- dem Fluge begann, ſaß er noch immer mißvergnuͤgt und in ſich verſunken; er haͤtte weinen moͤgen, und er war durchaus unentſchloſſen, was er thun und vornehmen ſolle. Gedankenlos zog er eine hervor- ragende Wurzel aus der Erde, und ploͤtzlich hoͤrte er ſchreckend ein dumpfes Winſeln im Boden, das ſich unterirdiſch in klagenden Toͤnen fortzog, und erſt in der Ferne wehmuͤthig verſcholl. Der Ton durchdrang ſein innerſtes Herz, er ergriff ihn, als wenn er unvermuthet die Wunde beruͤhrt habe, an der der ſterbende Leichnam der Natur in Schmer- zen verſcheiden wolle. Er ſprang auf und wollte entfliehen, denn er hatte wohl ehemals von der ſeltſamen Alrunenwurzel gehoͤrt, die beim Ausrei- I. [16]

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/252
Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 241. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/252>, abgerufen am 01.06.2024.