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Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.

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Erste Abtheilung.
ßen so herzdurchschneidende Klagetöne von sich gebe,
daß der Mensch von ihrem Gewinsel wahnsinnig
werden müsse. Indem er fortgehen wollte, stand
ein fremder Mann hinter ihm, welcher ihn freund-
lich ansah und fragte, wohin er wolle. Christian
hatte sich Gesellschaft gewünscht, und doch erschrack
er von neuem vor dieser freundlichen Gegenwart.
Wohin so eilig? fragte der Fremde noch einmal.
Der junge Jäger suchte sich zu sammeln und er-
zählte, wie ihm plötzlich die Einsamkeit so schreck-
lich vorgekommen sey, daß er sich habe retten wol-
len, der Abend sey so dunkel, die grünen Schat-
ten des Waldes so traurig, der Bach spreche in
lauter Klagen, die Wolken des Himmels zögen
seine Sehnsucht jenseit den Bergen hinüber. Ihr
seyd noch jung, sagte der Fremde, und könnt wohl
die Strenge der Einsamkeit noch nicht ertragen, ich
will euch begleiten, denn ihr findet doch kein Haus
oder Dorf im Umkreis einer Meile, wir mögen
unterwegs etwas sprechen und uns erzählen, so
verliert ihr die trüben Gedanken; in einer Stunde
kommt der Mond hinter den Bergen hervor, sein
Licht wird dann wohl auch eure Seele lichter machen.

Sie gingen fort, und der Fremde dünkte dem
Jünglinge bald ein alter Bekannter zu seyn. Wie
seyd ihr in dieses Gebürge gekommen, fragte je-
ner, ihr seid hier, eurer Sprache nach, nicht ein-
heimisch. -- Ach darüber, sagte der Jüngling, ließe
sich viel sagen, und doch ist es wieder keiner Rede,
keiner Erzählung werth; es hat mich wie mit frem-
der Gewalt aus dem Kreise meiner Eltern und

Erſte Abtheilung.
ßen ſo herzdurchſchneidende Klagetoͤne von ſich gebe,
daß der Menſch von ihrem Gewinſel wahnſinnig
werden muͤſſe. Indem er fortgehen wollte, ſtand
ein fremder Mann hinter ihm, welcher ihn freund-
lich anſah und fragte, wohin er wolle. Chriſtian
hatte ſich Geſellſchaft gewuͤnſcht, und doch erſchrack
er von neuem vor dieſer freundlichen Gegenwart.
Wohin ſo eilig? fragte der Fremde noch einmal.
Der junge Jaͤger ſuchte ſich zu ſammeln und er-
zaͤhlte, wie ihm ploͤtzlich die Einſamkeit ſo ſchreck-
lich vorgekommen ſey, daß er ſich habe retten wol-
len, der Abend ſey ſo dunkel, die gruͤnen Schat-
ten des Waldes ſo traurig, der Bach ſpreche in
lauter Klagen, die Wolken des Himmels zoͤgen
ſeine Sehnſucht jenſeit den Bergen hinuͤber. Ihr
ſeyd noch jung, ſagte der Fremde, und koͤnnt wohl
die Strenge der Einſamkeit noch nicht ertragen, ich
will euch begleiten, denn ihr findet doch kein Haus
oder Dorf im Umkreis einer Meile, wir moͤgen
unterwegs etwas ſprechen und uns erzaͤhlen, ſo
verliert ihr die truͤben Gedanken; in einer Stunde
kommt der Mond hinter den Bergen hervor, ſein
Licht wird dann wohl auch eure Seele lichter machen.

Sie gingen fort, und der Fremde duͤnkte dem
Juͤnglinge bald ein alter Bekannter zu ſeyn. Wie
ſeyd ihr in dieſes Gebuͤrge gekommen, fragte je-
ner, ihr ſeid hier, eurer Sprache nach, nicht ein-
heimiſch. — Ach daruͤber, ſagte der Juͤngling, ließe
ſich viel ſagen, und doch iſt es wieder keiner Rede,
keiner Erzaͤhlung werth; es hat mich wie mit frem-
der Gewalt aus dem Kreiſe meiner Eltern und

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[242/0253] Erſte Abtheilung. ßen ſo herzdurchſchneidende Klagetoͤne von ſich gebe, daß der Menſch von ihrem Gewinſel wahnſinnig werden muͤſſe. Indem er fortgehen wollte, ſtand ein fremder Mann hinter ihm, welcher ihn freund- lich anſah und fragte, wohin er wolle. Chriſtian hatte ſich Geſellſchaft gewuͤnſcht, und doch erſchrack er von neuem vor dieſer freundlichen Gegenwart. Wohin ſo eilig? fragte der Fremde noch einmal. Der junge Jaͤger ſuchte ſich zu ſammeln und er- zaͤhlte, wie ihm ploͤtzlich die Einſamkeit ſo ſchreck- lich vorgekommen ſey, daß er ſich habe retten wol- len, der Abend ſey ſo dunkel, die gruͤnen Schat- ten des Waldes ſo traurig, der Bach ſpreche in lauter Klagen, die Wolken des Himmels zoͤgen ſeine Sehnſucht jenſeit den Bergen hinuͤber. Ihr ſeyd noch jung, ſagte der Fremde, und koͤnnt wohl die Strenge der Einſamkeit noch nicht ertragen, ich will euch begleiten, denn ihr findet doch kein Haus oder Dorf im Umkreis einer Meile, wir moͤgen unterwegs etwas ſprechen und uns erzaͤhlen, ſo verliert ihr die truͤben Gedanken; in einer Stunde kommt der Mond hinter den Bergen hervor, ſein Licht wird dann wohl auch eure Seele lichter machen. Sie gingen fort, und der Fremde duͤnkte dem Juͤnglinge bald ein alter Bekannter zu ſeyn. Wie ſeyd ihr in dieſes Gebuͤrge gekommen, fragte je- ner, ihr ſeid hier, eurer Sprache nach, nicht ein- heimiſch. — Ach daruͤber, ſagte der Juͤngling, ließe ſich viel ſagen, und doch iſt es wieder keiner Rede, keiner Erzaͤhlung werth; es hat mich wie mit frem- der Gewalt aus dem Kreiſe meiner Eltern und

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 242. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/253>, abgerufen am 22.11.2024.