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Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.

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Erste Abtheilung.
im einsamsten Gebirge, und am Abend wurde mir
heut so traurig zu Sinne, wie noch niemals in
meinem Leben, ich kam mir so verloren, so ganz
unglückselig vor, und noch kann ich mich nicht
von dieser trüben Stimmung erhohlen.

Der fremde Mann hatte aufmerksam zuge-
hört, indem beide durch einen dunkeln Gang des
Waldes gewandert waren. Jetzt traten sie ins
Freie, und das Licht des Mondes, der oben mit
seinen Hörnern über der Bergspitze stand, begrüßte
sie freundlich: in unkenntlichen Formen und vielen
gesonderten Massen, die der bleiche Schimmer wie-
der räthselhaft vereinigte, lag das gespaltene Ge-
birge vor ihnen, im Hintergrunde ein steiler Berg,
auf welchem uralte verwitterte Ruinen schauerlich
im weißen Lichte sich zeigten. Unser Weg trennt
sich hier, sagte der Fremde, ich gehe in diese Tiefe
hinunter, dort, bei jenem alten Schacht ist meine
Wohnung: die Erze sind meine Nachbarn, die
Berggewässer erzählen mir Wunderdinge in der
Nacht, dahin kannst du mir doch nicht folgen.
Aber siehe dort den Runenberg mit seinem schrof-
fen Mauerwerke, wie schön und anlockend das alte
Gestein zu uns herblickt! Bist du niemals dorten
gewesen? Niemals, sagte der junge Christian, ich
hörte einmal meinen alten Förster wundersame Dinge
von diesem Berge erzählen, die ich thöricht genug
wieder vergessen habe, aber ich erinnere mich, daß
mir an jenem Abend grauenhaft zu Muthe war.
Ich möchte wohl einmal die Höhe besteigen, denn
die Lichter sind dort am schönsten, das Gras muß

Erſte Abtheilung.
im einſamſten Gebirge, und am Abend wurde mir
heut ſo traurig zu Sinne, wie noch niemals in
meinem Leben, ich kam mir ſo verloren, ſo ganz
ungluͤckſelig vor, und noch kann ich mich nicht
von dieſer truͤben Stimmung erhohlen.

Der fremde Mann hatte aufmerkſam zuge-
hoͤrt, indem beide durch einen dunkeln Gang des
Waldes gewandert waren. Jetzt traten ſie ins
Freie, und das Licht des Mondes, der oben mit
ſeinen Hoͤrnern uͤber der Bergſpitze ſtand, begruͤßte
ſie freundlich: in unkenntlichen Formen und vielen
geſonderten Maſſen, die der bleiche Schimmer wie-
der raͤthſelhaft vereinigte, lag das geſpaltene Ge-
birge vor ihnen, im Hintergrunde ein ſteiler Berg,
auf welchem uralte verwitterte Ruinen ſchauerlich
im weißen Lichte ſich zeigten. Unſer Weg trennt
ſich hier, ſagte der Fremde, ich gehe in dieſe Tiefe
hinunter, dort, bei jenem alten Schacht iſt meine
Wohnung: die Erze ſind meine Nachbarn, die
Berggewaͤſſer erzaͤhlen mir Wunderdinge in der
Nacht, dahin kannſt du mir doch nicht folgen.
Aber ſiehe dort den Runenberg mit ſeinem ſchrof-
fen Mauerwerke, wie ſchoͤn und anlockend das alte
Geſtein zu uns herblickt! Biſt du niemals dorten
geweſen? Niemals, ſagte der junge Chriſtian, ich
hoͤrte einmal meinen alten Foͤrſter wunderſame Dinge
von dieſem Berge erzaͤhlen, die ich thoͤricht genug
wieder vergeſſen habe, aber ich erinnere mich, daß
mir an jenem Abend grauenhaft zu Muthe war.
Ich moͤchte wohl einmal die Hoͤhe beſteigen, denn
die Lichter ſind dort am ſchoͤnſten, das Gras muß

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[246/0257] Erſte Abtheilung. im einſamſten Gebirge, und am Abend wurde mir heut ſo traurig zu Sinne, wie noch niemals in meinem Leben, ich kam mir ſo verloren, ſo ganz ungluͤckſelig vor, und noch kann ich mich nicht von dieſer truͤben Stimmung erhohlen. Der fremde Mann hatte aufmerkſam zuge- hoͤrt, indem beide durch einen dunkeln Gang des Waldes gewandert waren. Jetzt traten ſie ins Freie, und das Licht des Mondes, der oben mit ſeinen Hoͤrnern uͤber der Bergſpitze ſtand, begruͤßte ſie freundlich: in unkenntlichen Formen und vielen geſonderten Maſſen, die der bleiche Schimmer wie- der raͤthſelhaft vereinigte, lag das geſpaltene Ge- birge vor ihnen, im Hintergrunde ein ſteiler Berg, auf welchem uralte verwitterte Ruinen ſchauerlich im weißen Lichte ſich zeigten. Unſer Weg trennt ſich hier, ſagte der Fremde, ich gehe in dieſe Tiefe hinunter, dort, bei jenem alten Schacht iſt meine Wohnung: die Erze ſind meine Nachbarn, die Berggewaͤſſer erzaͤhlen mir Wunderdinge in der Nacht, dahin kannſt du mir doch nicht folgen. Aber ſiehe dort den Runenberg mit ſeinem ſchrof- fen Mauerwerke, wie ſchoͤn und anlockend das alte Geſtein zu uns herblickt! Biſt du niemals dorten geweſen? Niemals, ſagte der junge Chriſtian, ich hoͤrte einmal meinen alten Foͤrſter wunderſame Dinge von dieſem Berge erzaͤhlen, die ich thoͤricht genug wieder vergeſſen habe, aber ich erinnere mich, daß mir an jenem Abend grauenhaft zu Muthe war. Ich moͤchte wohl einmal die Hoͤhe beſteigen, denn die Lichter ſind dort am ſchoͤnſten, das Gras muß

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 246. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/257>, abgerufen am 22.11.2024.