Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.

Bild:
<< vorherige Seite
Der Runenberg.

Von demantnen Säulen
Fließen Thränenquellen,
Töne klingen drein;
In den klaren hellen
Schön durchsichtigen Wellen
Bildet sich der Schein,
Der die Seelen ziehet,
Dem das Herz erglühet.
Kommt ihr Geister alle
Zu der goldnen Halle,
Hebt aus tiefen Dunkeln
Häupter, welche funkeln!
Macht der Herzen und der Geister,
Die so durstig sind im Sehnen,
Mit den leuchtend schönen Thränen
Allgewaltig euch zum Meister!

Als sie geendigt hatte, fing sie an sich zu ent-
kleiden, und ihre Gewänder in einen kostbaren
Wandschrank zu legen. Erst nahm sie einen gol-
denen Schleyer vom Haupte, und ein langes schwar-
zes Haar floß in geringelter Fülle bis über die
Hüften hinab; dann löste sie das Gewand des
Busens, und der Jüngling vergaß sich und die
Welt im Anschauen der überirdischen Schönheit.
Er wagte kaum zu athmen, als sie nach und nach
alle Hüllen löste; nackt schritt sie endlich im Saale
auf und nieder, und ihre schweren schwebenden
Locken bildeten um sie her ein dunkel wogendes
Meer, aus dem wie Marmor die glänzenden For-
men des reinen Leibes abwechselnd hervor strahl-
ten. Nach geraumer Zeit näherte sie sich einem
andern goldenen Schranke, nahm eine Tafel her-

Der Runenberg.

Von demantnen Saͤulen
Fließen Thraͤnenquellen,
Toͤne klingen drein;
In den klaren hellen
Schoͤn durchſichtigen Wellen
Bildet ſich der Schein,
Der die Seelen ziehet,
Dem das Herz ergluͤhet.
Kommt ihr Geiſter alle
Zu der goldnen Halle,
Hebt aus tiefen Dunkeln
Haͤupter, welche funkeln!
Macht der Herzen und der Geiſter,
Die ſo durſtig ſind im Sehnen,
Mit den leuchtend ſchoͤnen Thraͤnen
Allgewaltig euch zum Meiſter!

Als ſie geendigt hatte, fing ſie an ſich zu ent-
kleiden, und ihre Gewaͤnder in einen koſtbaren
Wandſchrank zu legen. Erſt nahm ſie einen gol-
denen Schleyer vom Haupte, und ein langes ſchwar-
zes Haar floß in geringelter Fuͤlle bis uͤber die
Huͤften hinab; dann loͤſte ſie das Gewand des
Buſens, und der Juͤngling vergaß ſich und die
Welt im Anſchauen der uͤberirdiſchen Schoͤnheit.
Er wagte kaum zu athmen, als ſie nach und nach
alle Huͤllen loͤſte; nackt ſchritt ſie endlich im Saale
auf und nieder, und ihre ſchweren ſchwebenden
Locken bildeten um ſie her ein dunkel wogendes
Meer, aus dem wie Marmor die glaͤnzenden For-
men des reinen Leibes abwechſelnd hervor ſtrahl-
ten. Nach geraumer Zeit naͤherte ſie ſich einem
andern goldenen Schranke, nahm eine Tafel her-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <lg type="poem">
            <pb facs="#f0260" n="249"/>
            <fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Der Runenberg</hi>.</fw><lb/>
            <l>Von demantnen Sa&#x0364;ulen</l><lb/>
            <l>Fließen Thra&#x0364;nenquellen,</l><lb/>
            <l>To&#x0364;ne klingen drein;</l><lb/>
            <l>In den klaren hellen</l><lb/>
            <l>Scho&#x0364;n durch&#x017F;ichtigen Wellen</l><lb/>
            <l>Bildet &#x017F;ich der Schein,</l><lb/>
            <l>Der die Seelen ziehet,</l><lb/>
            <l>Dem das Herz erglu&#x0364;het.</l><lb/>
            <l>Kommt ihr Gei&#x017F;ter alle</l><lb/>
            <l>Zu der goldnen Halle,</l><lb/>
            <l>Hebt aus tiefen Dunkeln</l><lb/>
            <l>Ha&#x0364;upter, welche funkeln!</l><lb/>
            <l>Macht der Herzen und der Gei&#x017F;ter,</l><lb/>
            <l>Die &#x017F;o dur&#x017F;tig &#x017F;ind im Sehnen,</l><lb/>
            <l>Mit den leuchtend &#x017F;cho&#x0364;nen Thra&#x0364;nen</l><lb/>
            <l>Allgewaltig euch zum Mei&#x017F;ter!</l>
          </lg><lb/>
          <p>Als &#x017F;ie geendigt hatte, fing &#x017F;ie an &#x017F;ich zu ent-<lb/>
kleiden, und ihre Gewa&#x0364;nder in einen ko&#x017F;tbaren<lb/>
Wand&#x017F;chrank zu legen. Er&#x017F;t nahm &#x017F;ie einen gol-<lb/>
denen Schleyer vom Haupte, und ein langes &#x017F;chwar-<lb/>
zes Haar floß in geringelter Fu&#x0364;lle bis u&#x0364;ber die<lb/>
Hu&#x0364;ften hinab; dann lo&#x0364;&#x017F;te &#x017F;ie das Gewand des<lb/>
Bu&#x017F;ens, und der Ju&#x0364;ngling vergaß &#x017F;ich und die<lb/>
Welt im An&#x017F;chauen der u&#x0364;berirdi&#x017F;chen Scho&#x0364;nheit.<lb/>
Er wagte kaum zu athmen, als &#x017F;ie nach und nach<lb/>
alle Hu&#x0364;llen lo&#x0364;&#x017F;te; nackt &#x017F;chritt &#x017F;ie endlich im Saale<lb/>
auf und nieder, und ihre &#x017F;chweren &#x017F;chwebenden<lb/>
Locken bildeten um &#x017F;ie her ein dunkel wogendes<lb/>
Meer, aus dem wie Marmor die gla&#x0364;nzenden For-<lb/>
men des reinen Leibes abwech&#x017F;elnd hervor &#x017F;trahl-<lb/>
ten. Nach geraumer Zeit na&#x0364;herte &#x017F;ie &#x017F;ich einem<lb/>
andern goldenen Schranke, nahm eine Tafel her-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[249/0260] Der Runenberg. Von demantnen Saͤulen Fließen Thraͤnenquellen, Toͤne klingen drein; In den klaren hellen Schoͤn durchſichtigen Wellen Bildet ſich der Schein, Der die Seelen ziehet, Dem das Herz ergluͤhet. Kommt ihr Geiſter alle Zu der goldnen Halle, Hebt aus tiefen Dunkeln Haͤupter, welche funkeln! Macht der Herzen und der Geiſter, Die ſo durſtig ſind im Sehnen, Mit den leuchtend ſchoͤnen Thraͤnen Allgewaltig euch zum Meiſter! Als ſie geendigt hatte, fing ſie an ſich zu ent- kleiden, und ihre Gewaͤnder in einen koſtbaren Wandſchrank zu legen. Erſt nahm ſie einen gol- denen Schleyer vom Haupte, und ein langes ſchwar- zes Haar floß in geringelter Fuͤlle bis uͤber die Huͤften hinab; dann loͤſte ſie das Gewand des Buſens, und der Juͤngling vergaß ſich und die Welt im Anſchauen der uͤberirdiſchen Schoͤnheit. Er wagte kaum zu athmen, als ſie nach und nach alle Huͤllen loͤſte; nackt ſchritt ſie endlich im Saale auf und nieder, und ihre ſchweren ſchwebenden Locken bildeten um ſie her ein dunkel wogendes Meer, aus dem wie Marmor die glaͤnzenden For- men des reinen Leibes abwechſelnd hervor ſtrahl- ten. Nach geraumer Zeit naͤherte ſie ſich einem andern goldenen Schranke, nahm eine Tafel her-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/260
Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 249. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/260>, abgerufen am 01.06.2024.