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Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.

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Erste Abtheilung.
auch in das Gebäude, aber heut ist Elisabeth nicht
mehr ein blühendes kindliches Mädchen, ihre Ju-
gend ist vorüber, ich kann nicht mit der Sehnsucht
wie damals den Blick ihrer Augen aufsuchen: so
habe ich muthwillig ein hohes ewiges Glück aus
der Acht gelassen, um ein vergängliches und zeit-
liches zu gewinnen.

Er ging sehnsuchtsvoll nach dem benachbarten
Walde, und vertiefte sich in seine dichtesten Schat-
ten. Eine schauerliche Stille umgab ihn, keine
Luft rührte sich in den Blättern. Indem sah er
einen Mann von ferne auf sich zukommen, den er
für den Fremden erkannte; er erschrack, und sein
erster Gedanke war, jener würde sein Geld von
ihm zurück fordern. Als die Gestalt etwas näher
kam, sah er, wie sehr er sich geirrt hatte, denn
die Umrisse, welche er wahrzunehmen gewähnt,
zerbrachen wie in sich selber; ein altes Weib von
der äußersten Häßlichkeit kam auf ihn zu, sie war
in schmutzige Lumpen gekleidet, ein zerrissenes Tuch
hielt einige greise Haare zusammen, sie hinkte an
einer Krücke. Mit fürchterlicher Stimme redete
sie Christian an, und fragte nach seinem Namen
und Stande, er antwortete ihr umständlich und
sagte darauf: aber wer bist du? Man nennt mich
das Waldweib, sagte jene, und jedes Kind weiß
von mir zu erzählen; hast du mich niemals gekannt?
Mit den letzten Worten wandte sie sich um, und
Christian glaubte zwischen den Bäumen den gol-
denen Schleier, den hohen Gang, den mächtigen
Bau der Glieder wieder zu erkennen. Er wollte

Erſte Abtheilung.
auch in das Gebaͤude, aber heut iſt Eliſabeth nicht
mehr ein bluͤhendes kindliches Maͤdchen, ihre Ju-
gend iſt voruͤber, ich kann nicht mit der Sehnſucht
wie damals den Blick ihrer Augen aufſuchen: ſo
habe ich muthwillig ein hohes ewiges Gluͤck aus
der Acht gelaſſen, um ein vergaͤngliches und zeit-
liches zu gewinnen.

Er ging ſehnſuchtsvoll nach dem benachbarten
Walde, und vertiefte ſich in ſeine dichteſten Schat-
ten. Eine ſchauerliche Stille umgab ihn, keine
Luft ruͤhrte ſich in den Blaͤttern. Indem ſah er
einen Mann von ferne auf ſich zukommen, den er
fuͤr den Fremden erkannte; er erſchrack, und ſein
erſter Gedanke war, jener wuͤrde ſein Geld von
ihm zuruͤck fordern. Als die Geſtalt etwas naͤher
kam, ſah er, wie ſehr er ſich geirrt hatte, denn
die Umriſſe, welche er wahrzunehmen gewaͤhnt,
zerbrachen wie in ſich ſelber; ein altes Weib von
der aͤußerſten Haͤßlichkeit kam auf ihn zu, ſie war
in ſchmutzige Lumpen gekleidet, ein zerriſſenes Tuch
hielt einige greiſe Haare zuſammen, ſie hinkte an
einer Kruͤcke. Mit fuͤrchterlicher Stimme redete
ſie Chriſtian an, und fragte nach ſeinem Namen
und Stande, er antwortete ihr umſtaͤndlich und
ſagte darauf: aber wer biſt du? Man nennt mich
das Waldweib, ſagte jene, und jedes Kind weiß
von mir zu erzaͤhlen; haſt du mich niemals gekannt?
Mit den letzten Worten wandte ſie ſich um, und
Chriſtian glaubte zwiſchen den Baͤumen den gol-
denen Schleier, den hohen Gang, den maͤchtigen
Bau der Glieder wieder zu erkennen. Er wollte

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[266/0277] Erſte Abtheilung. auch in das Gebaͤude, aber heut iſt Eliſabeth nicht mehr ein bluͤhendes kindliches Maͤdchen, ihre Ju- gend iſt voruͤber, ich kann nicht mit der Sehnſucht wie damals den Blick ihrer Augen aufſuchen: ſo habe ich muthwillig ein hohes ewiges Gluͤck aus der Acht gelaſſen, um ein vergaͤngliches und zeit- liches zu gewinnen. Er ging ſehnſuchtsvoll nach dem benachbarten Walde, und vertiefte ſich in ſeine dichteſten Schat- ten. Eine ſchauerliche Stille umgab ihn, keine Luft ruͤhrte ſich in den Blaͤttern. Indem ſah er einen Mann von ferne auf ſich zukommen, den er fuͤr den Fremden erkannte; er erſchrack, und ſein erſter Gedanke war, jener wuͤrde ſein Geld von ihm zuruͤck fordern. Als die Geſtalt etwas naͤher kam, ſah er, wie ſehr er ſich geirrt hatte, denn die Umriſſe, welche er wahrzunehmen gewaͤhnt, zerbrachen wie in ſich ſelber; ein altes Weib von der aͤußerſten Haͤßlichkeit kam auf ihn zu, ſie war in ſchmutzige Lumpen gekleidet, ein zerriſſenes Tuch hielt einige greiſe Haare zuſammen, ſie hinkte an einer Kruͤcke. Mit fuͤrchterlicher Stimme redete ſie Chriſtian an, und fragte nach ſeinem Namen und Stande, er antwortete ihr umſtaͤndlich und ſagte darauf: aber wer biſt du? Man nennt mich das Waldweib, ſagte jene, und jedes Kind weiß von mir zu erzaͤhlen; haſt du mich niemals gekannt? Mit den letzten Worten wandte ſie ſich um, und Chriſtian glaubte zwiſchen den Baͤumen den gol- denen Schleier, den hohen Gang, den maͤchtigen Bau der Glieder wieder zu erkennen. Er wollte

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 266. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/277>, abgerufen am 22.11.2024.