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Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.

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Liebeszauber.
dem Wege hatten sie sich schon oft wieder trennen
wollen, aber beide hatten in jeder Streitigkeit nur
um so deutlicher gefühlt, wie unentbehrlich sie sich
wären. Kaum waren sie in einer Stadt aus dem
Wagen gestiegen, so hatte Roderich schon alle Merk-
würdigkeiten des Orts gesehen, um sie am folgen-
den Tage zu vergessen, während Emil sich eine
Woche aus Büchern gründlich vorbereitete, um
nichts aus der Acht zu lassen, wovon er doch nach-
her aus Trägheit vieles seiner Aufmerksamkeit nicht
würdigte; Roderich hatte gleich tausend Bekannt-
schaften gemacht und alle öffentlichen Oerter be-
sucht, führte auch nicht selten seine neu erworbe-
nen Freunde auf Emils einsames Zimmer, wo er
diesen dann mit ihnen allein ließ, wenn sie anfin-
gen ihm Langeweile zu machen. Eben so oft
brachte er den bescheidenen Emil in Verlegenheit,
wenn er dessen Verdienste und Kenntnisse gegen
Gelehrte und einsichtsvolle Männer über die Ge-
bühr erhob, und diesen zu verstehn gab, wie vie-
les sie in Sprachen, Alterthümern, oder Kunst-
kenntnissen von seinem Freunde lernen könnten, ob
er gleich selbst niemals die Zeit finden konnte, über
diese Gegenstände seinen Gefährten anzuhören, wenn
sich das Gespräch dahin lenkte. War nun Emil ein-
mal zur Thätigkeit aufgelegt, so konnte er fast da-
rauf rechnen, daß sein schwärmender Freund sich
in der Nacht auf einem Balle, oder einer Schlit-
tenfahrt erkältet habe, und das Bett hüten müsse,
so daß Emil in Gesellschaft des lebendigsten, un-

Liebeszauber.
dem Wege hatten ſie ſich ſchon oft wieder trennen
wollen, aber beide hatten in jeder Streitigkeit nur
um ſo deutlicher gefuͤhlt, wie unentbehrlich ſie ſich
waͤren. Kaum waren ſie in einer Stadt aus dem
Wagen geſtiegen, ſo hatte Roderich ſchon alle Merk-
wuͤrdigkeiten des Orts geſehen, um ſie am folgen-
den Tage zu vergeſſen, waͤhrend Emil ſich eine
Woche aus Buͤchern gruͤndlich vorbereitete, um
nichts aus der Acht zu laſſen, wovon er doch nach-
her aus Traͤgheit vieles ſeiner Aufmerkſamkeit nicht
wuͤrdigte; Roderich hatte gleich tauſend Bekannt-
ſchaften gemacht und alle oͤffentlichen Oerter be-
ſucht, fuͤhrte auch nicht ſelten ſeine neu erworbe-
nen Freunde auf Emils einſames Zimmer, wo er
dieſen dann mit ihnen allein ließ, wenn ſie anfin-
gen ihm Langeweile zu machen. Eben ſo oft
brachte er den beſcheidenen Emil in Verlegenheit,
wenn er deſſen Verdienſte und Kenntniſſe gegen
Gelehrte und einſichtsvolle Maͤnner uͤber die Ge-
buͤhr erhob, und dieſen zu verſtehn gab, wie vie-
les ſie in Sprachen, Alterthuͤmern, oder Kunſt-
kenntniſſen von ſeinem Freunde lernen koͤnnten, ob
er gleich ſelbſt niemals die Zeit finden konnte, uͤber
dieſe Gegenſtaͤnde ſeinen Gefaͤhrten anzuhoͤren, wenn
ſich das Geſpraͤch dahin lenkte. War nun Emil ein-
mal zur Thaͤtigkeit aufgelegt, ſo konnte er faſt da-
rauf rechnen, daß ſein ſchwaͤrmender Freund ſich
in der Nacht auf einem Balle, oder einer Schlit-
tenfahrt erkaͤltet habe, und das Bett huͤten muͤſſe,
ſo daß Emil in Geſellſchaft des lebendigſten, un-

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[275/0286] Liebeszauber. dem Wege hatten ſie ſich ſchon oft wieder trennen wollen, aber beide hatten in jeder Streitigkeit nur um ſo deutlicher gefuͤhlt, wie unentbehrlich ſie ſich waͤren. Kaum waren ſie in einer Stadt aus dem Wagen geſtiegen, ſo hatte Roderich ſchon alle Merk- wuͤrdigkeiten des Orts geſehen, um ſie am folgen- den Tage zu vergeſſen, waͤhrend Emil ſich eine Woche aus Buͤchern gruͤndlich vorbereitete, um nichts aus der Acht zu laſſen, wovon er doch nach- her aus Traͤgheit vieles ſeiner Aufmerkſamkeit nicht wuͤrdigte; Roderich hatte gleich tauſend Bekannt- ſchaften gemacht und alle oͤffentlichen Oerter be- ſucht, fuͤhrte auch nicht ſelten ſeine neu erworbe- nen Freunde auf Emils einſames Zimmer, wo er dieſen dann mit ihnen allein ließ, wenn ſie anfin- gen ihm Langeweile zu machen. Eben ſo oft brachte er den beſcheidenen Emil in Verlegenheit, wenn er deſſen Verdienſte und Kenntniſſe gegen Gelehrte und einſichtsvolle Maͤnner uͤber die Ge- buͤhr erhob, und dieſen zu verſtehn gab, wie vie- les ſie in Sprachen, Alterthuͤmern, oder Kunſt- kenntniſſen von ſeinem Freunde lernen koͤnnten, ob er gleich ſelbſt niemals die Zeit finden konnte, uͤber dieſe Gegenſtaͤnde ſeinen Gefaͤhrten anzuhoͤren, wenn ſich das Geſpraͤch dahin lenkte. War nun Emil ein- mal zur Thaͤtigkeit aufgelegt, ſo konnte er faſt da- rauf rechnen, daß ſein ſchwaͤrmender Freund ſich in der Nacht auf einem Balle, oder einer Schlit- tenfahrt erkaͤltet habe, und das Bett huͤten muͤſſe, ſo daß Emil in Geſellſchaft des lebendigſten, un-

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 275. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/286>, abgerufen am 22.11.2024.