Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.Liebeszauber. die Fensterläden an. Eine Spalte blieb hell, großgenug, um von Emils Standpunkt einen Theil des kleinen Zimmers zu überschauen, und dort stand oft der Glückliche bis nach Mitternacht wie bezau- bert, und beobachtete jede Bewegung der Hand, jede Miene seiner Geliebten; er freute sich, wenn sie dem kleinen Kinde lesen lehrte, oder sie im Nä- hen und Stricken unterrichtete. Auf seine Erkun- digung hatte er erfahren, daß die Kleine eine arme Waise sey, die das schöne Mädchen mitleidig zu sich genommen hatte, um sie zu erziehn. Emils Freunde begriffen nicht, warum er in dieser engen Gasse wohne, in einem unbequemen Hause, wes- halb man ihn so wenig in Gesellschaften sehe, und womit er sich beschäftige. Unbeschäftigt, in der Einsamkeit, war er glücklich, nur unzufrieden mit sich und seinem menschenscheuen Charakter, daß er es nicht wage, die nähere Bekanntschaft dieses schö- nen Wesens zu suchen, so freundlich sie auch einige- mal am Tage gegrüßt und gedankt hatte. Er wußte nicht, daß sie eben so trunken zu ihm hinüber spähte, und ahndete nicht, welche Wünsche sich in ihrem Herzen bildeten, welcher Anstrengung, wel- cher Opfer sie sich fähig fühlte, um nur zum Be- sitz seiner Liebe zu gelangen. Nachdem er einigemal auf und nieder gegan- Liebeszauber. die Fenſterlaͤden an. Eine Spalte blieb hell, großgenug, um von Emils Standpunkt einen Theil des kleinen Zimmers zu uͤberſchauen, und dort ſtand oft der Gluͤckliche bis nach Mitternacht wie bezau- bert, und beobachtete jede Bewegung der Hand, jede Miene ſeiner Geliebten; er freute ſich, wenn ſie dem kleinen Kinde leſen lehrte, oder ſie im Naͤ- hen und Stricken unterrichtete. Auf ſeine Erkun- digung hatte er erfahren, daß die Kleine eine arme Waiſe ſey, die das ſchoͤne Maͤdchen mitleidig zu ſich genommen hatte, um ſie zu erziehn. Emils Freunde begriffen nicht, warum er in dieſer engen Gaſſe wohne, in einem unbequemen Hauſe, wes- halb man ihn ſo wenig in Geſellſchaften ſehe, und womit er ſich beſchaͤftige. Unbeſchaͤftigt, in der Einſamkeit, war er gluͤcklich, nur unzufrieden mit ſich und ſeinem menſchenſcheuen Charakter, daß er es nicht wage, die naͤhere Bekanntſchaft dieſes ſchoͤ- nen Weſens zu ſuchen, ſo freundlich ſie auch einige- mal am Tage gegruͤßt und gedankt hatte. Er wußte nicht, daß ſie eben ſo trunken zu ihm hinuͤber ſpaͤhte, und ahndete nicht, welche Wuͤnſche ſich in ihrem Herzen bildeten, welcher Anſtrengung, wel- cher Opfer ſie ſich faͤhig fuͤhlte, um nur zum Be- ſitz ſeiner Liebe zu gelangen. Nachdem er einigemal auf und nieder gegan- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0294" n="283"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Liebeszauber</hi>.</fw><lb/> die Fenſterlaͤden an. Eine Spalte blieb hell, groß<lb/> genug, um von Emils Standpunkt einen Theil<lb/> des kleinen Zimmers zu uͤberſchauen, und dort ſtand<lb/> oft der Gluͤckliche bis nach Mitternacht wie bezau-<lb/> bert, und beobachtete jede Bewegung der Hand,<lb/> jede Miene ſeiner Geliebten; er freute ſich, wenn<lb/> ſie dem kleinen Kinde leſen lehrte, oder ſie im Naͤ-<lb/> hen und Stricken unterrichtete. Auf ſeine Erkun-<lb/> digung hatte er erfahren, daß die Kleine eine arme<lb/> Waiſe ſey, die das ſchoͤne Maͤdchen mitleidig zu<lb/> ſich genommen hatte, um ſie zu erziehn. Emils<lb/> Freunde begriffen nicht, warum er in dieſer engen<lb/> Gaſſe wohne, in einem unbequemen Hauſe, wes-<lb/> halb man ihn ſo wenig in Geſellſchaften ſehe, und<lb/> womit er ſich beſchaͤftige. Unbeſchaͤftigt, in der<lb/> Einſamkeit, war er gluͤcklich, nur unzufrieden mit<lb/> ſich und ſeinem menſchenſcheuen Charakter, daß er<lb/> es nicht wage, die naͤhere Bekanntſchaft dieſes ſchoͤ-<lb/> nen Weſens zu ſuchen, ſo freundlich ſie auch einige-<lb/> mal am Tage gegruͤßt und gedankt hatte. Er wußte<lb/> nicht, daß ſie eben ſo trunken zu ihm hinuͤber<lb/> ſpaͤhte, und ahndete nicht, welche Wuͤnſche ſich in<lb/> ihrem Herzen bildeten, welcher Anſtrengung, wel-<lb/> cher Opfer ſie ſich faͤhig fuͤhlte, um nur zum Be-<lb/> ſitz ſeiner Liebe zu gelangen.</p><lb/> <p>Nachdem er einigemal auf und nieder gegan-<lb/> gen war, und das Licht ſich mit dem Kinde wie-<lb/> der entfernt hatte, faßte er ploͤtzlich den Entſchluß,<lb/> ſeiner Neigung und Natur zuwider, auf den Ball<lb/> zu gehen, weil es ihm einfiel, daß ſeine Unbe-<lb/> kannte eine Ausnahme von ihrer eingezogenen Le-<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [283/0294]
Liebeszauber.
die Fenſterlaͤden an. Eine Spalte blieb hell, groß
genug, um von Emils Standpunkt einen Theil
des kleinen Zimmers zu uͤberſchauen, und dort ſtand
oft der Gluͤckliche bis nach Mitternacht wie bezau-
bert, und beobachtete jede Bewegung der Hand,
jede Miene ſeiner Geliebten; er freute ſich, wenn
ſie dem kleinen Kinde leſen lehrte, oder ſie im Naͤ-
hen und Stricken unterrichtete. Auf ſeine Erkun-
digung hatte er erfahren, daß die Kleine eine arme
Waiſe ſey, die das ſchoͤne Maͤdchen mitleidig zu
ſich genommen hatte, um ſie zu erziehn. Emils
Freunde begriffen nicht, warum er in dieſer engen
Gaſſe wohne, in einem unbequemen Hauſe, wes-
halb man ihn ſo wenig in Geſellſchaften ſehe, und
womit er ſich beſchaͤftige. Unbeſchaͤftigt, in der
Einſamkeit, war er gluͤcklich, nur unzufrieden mit
ſich und ſeinem menſchenſcheuen Charakter, daß er
es nicht wage, die naͤhere Bekanntſchaft dieſes ſchoͤ-
nen Weſens zu ſuchen, ſo freundlich ſie auch einige-
mal am Tage gegruͤßt und gedankt hatte. Er wußte
nicht, daß ſie eben ſo trunken zu ihm hinuͤber
ſpaͤhte, und ahndete nicht, welche Wuͤnſche ſich in
ihrem Herzen bildeten, welcher Anſtrengung, wel-
cher Opfer ſie ſich faͤhig fuͤhlte, um nur zum Be-
ſitz ſeiner Liebe zu gelangen.
Nachdem er einigemal auf und nieder gegan-
gen war, und das Licht ſich mit dem Kinde wie-
der entfernt hatte, faßte er ploͤtzlich den Entſchluß,
ſeiner Neigung und Natur zuwider, auf den Ball
zu gehen, weil es ihm einfiel, daß ſeine Unbe-
kannte eine Ausnahme von ihrer eingezogenen Le-
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |