Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.Erste Abtheilung. also wollt ihr verklagen? Aber eure Wirklichkeit!Thut doch nur die Augen auf, angenehme Geg- ner und Widersacher, und seht, daß es dort, vor euren Augen, hinter eurem Rücken, wenn ihr euch nur erkundigt, weit schlimmer hergeht. Schlimmer und herber, und also auch viel gräß- licher, weil das Schrecken hier durch nichts Poe- tisches gemildert wird. Soll ich euch dergleichen Dinge aus dem alltäglichsten Leben, oder aus der Geschichte erzählen? Ich bin nicht von den schwächsten Nerven, aber ich weiß noch wohl, daß ich einige Nächte nicht schlafen konnte, weil mich das Bild des armen gefolterten Grandier die Tage hindurch bei allen meinen Geschäften verfolgte, so daß ich selbst das Buch, worin ich sein Schicksal gelesen, mit Grauen betrachtete. Dieser Mann, ein Geistlicher, ward durch den gemeinsten abgeschmacktesten Neid der Zauberei beschuldigt, unkluge Nonnen stellten sich besessen und klagten ihn als den Urheber ihres Zustan- des an; Richelieu, der sich irrigerweise von dem gebildeten und nicht unwitzigen Manne beleidigt glaubte, ging in die verächtliche Kabale ein. Grandier lachte anfangs, aber er ward vor Ge- richt gezogen, unmenschlich, bis zum Sterben fast, zermartert, und dann auf die grausamste Weise verbrannt. Alle seine Richter waren von seiner Unschuld überzeugt, sein hoher Verfolger am in- nigsten; eine aufgeklärte witzige Nation spottete über den Prozeß, man besuchte von Paris die Erſte Abtheilung. alſo wollt ihr verklagen? Aber eure Wirklichkeit!Thut doch nur die Augen auf, angenehme Geg- ner und Widerſacher, und ſeht, daß es dort, vor euren Augen, hinter eurem Ruͤcken, wenn ihr euch nur erkundigt, weit ſchlimmer hergeht. Schlimmer und herber, und alſo auch viel graͤß- licher, weil das Schrecken hier durch nichts Poe- tiſches gemildert wird. Soll ich euch dergleichen Dinge aus dem alltaͤglichſten Leben, oder aus der Geſchichte erzaͤhlen? Ich bin nicht von den ſchwaͤchſten Nerven, aber ich weiß noch wohl, daß ich einige Naͤchte nicht ſchlafen konnte, weil mich das Bild des armen gefolterten Grandier die Tage hindurch bei allen meinen Geſchaͤften verfolgte, ſo daß ich ſelbſt das Buch, worin ich ſein Schickſal geleſen, mit Grauen betrachtete. Dieſer Mann, ein Geiſtlicher, ward durch den gemeinſten abgeſchmackteſten Neid der Zauberei beſchuldigt, unkluge Nonnen ſtellten ſich beſeſſen und klagten ihn als den Urheber ihres Zuſtan- des an; Richelieu, der ſich irrigerweiſe von dem gebildeten und nicht unwitzigen Manne beleidigt glaubte, ging in die veraͤchtliche Kabale ein. Grandier lachte anfangs, aber er ward vor Ge- richt gezogen, unmenſchlich, bis zum Sterben faſt, zermartert, und dann auf die grauſamſte Weiſe verbrannt. Alle ſeine Richter waren von ſeiner Unſchuld uͤberzeugt, ſein hoher Verfolger am in- nigſten; eine aufgeklaͤrte witzige Nation ſpottete uͤber den Prozeß, man beſuchte von Paris die <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0328" n="317"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Erſte Abtheilung</hi>.</fw><lb/> alſo wollt ihr verklagen? Aber eure Wirklichkeit!<lb/> Thut doch nur die Augen auf, angenehme Geg-<lb/> ner und Widerſacher, und ſeht, daß es dort,<lb/> vor euren Augen, hinter eurem Ruͤcken, wenn<lb/> ihr euch nur erkundigt, weit ſchlimmer hergeht.<lb/> Schlimmer und herber, und alſo auch viel graͤß-<lb/> licher, weil das Schrecken hier durch nichts Poe-<lb/> tiſches gemildert wird. Soll ich euch dergleichen<lb/> Dinge aus dem alltaͤglichſten Leben, oder aus<lb/> der Geſchichte erzaͤhlen? Ich bin nicht von den<lb/> ſchwaͤchſten Nerven, aber ich weiß noch wohl,<lb/> daß ich einige Naͤchte nicht ſchlafen konnte, weil<lb/> mich das Bild des armen gefolterten Grandier<lb/> die Tage hindurch bei allen meinen Geſchaͤften<lb/> verfolgte, ſo daß ich ſelbſt das Buch, worin ich<lb/> ſein Schickſal geleſen, mit Grauen betrachtete.<lb/> Dieſer Mann, ein Geiſtlicher, ward durch den<lb/> gemeinſten abgeſchmackteſten Neid der Zauberei<lb/> beſchuldigt, unkluge Nonnen ſtellten ſich beſeſſen<lb/> und klagten ihn als den Urheber ihres Zuſtan-<lb/> des an; Richelieu, der ſich irrigerweiſe von dem<lb/> gebildeten und nicht unwitzigen Manne beleidigt<lb/> glaubte, ging in die veraͤchtliche Kabale ein.<lb/> Grandier lachte anfangs, aber er ward vor Ge-<lb/> richt gezogen, unmenſchlich, bis zum Sterben faſt,<lb/> zermartert, und dann auf die grauſamſte Weiſe<lb/> verbrannt. Alle ſeine Richter waren von ſeiner<lb/> Unſchuld uͤberzeugt, ſein hoher Verfolger am in-<lb/> nigſten; eine aufgeklaͤrte witzige Nation ſpottete<lb/> uͤber den Prozeß, man beſuchte von Paris die<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [317/0328]
Erſte Abtheilung.
alſo wollt ihr verklagen? Aber eure Wirklichkeit!
Thut doch nur die Augen auf, angenehme Geg-
ner und Widerſacher, und ſeht, daß es dort,
vor euren Augen, hinter eurem Ruͤcken, wenn
ihr euch nur erkundigt, weit ſchlimmer hergeht.
Schlimmer und herber, und alſo auch viel graͤß-
licher, weil das Schrecken hier durch nichts Poe-
tiſches gemildert wird. Soll ich euch dergleichen
Dinge aus dem alltaͤglichſten Leben, oder aus
der Geſchichte erzaͤhlen? Ich bin nicht von den
ſchwaͤchſten Nerven, aber ich weiß noch wohl,
daß ich einige Naͤchte nicht ſchlafen konnte, weil
mich das Bild des armen gefolterten Grandier
die Tage hindurch bei allen meinen Geſchaͤften
verfolgte, ſo daß ich ſelbſt das Buch, worin ich
ſein Schickſal geleſen, mit Grauen betrachtete.
Dieſer Mann, ein Geiſtlicher, ward durch den
gemeinſten abgeſchmackteſten Neid der Zauberei
beſchuldigt, unkluge Nonnen ſtellten ſich beſeſſen
und klagten ihn als den Urheber ihres Zuſtan-
des an; Richelieu, der ſich irrigerweiſe von dem
gebildeten und nicht unwitzigen Manne beleidigt
glaubte, ging in die veraͤchtliche Kabale ein.
Grandier lachte anfangs, aber er ward vor Ge-
richt gezogen, unmenſchlich, bis zum Sterben faſt,
zermartert, und dann auf die grauſamſte Weiſe
verbrannt. Alle ſeine Richter waren von ſeiner
Unſchuld uͤberzeugt, ſein hoher Verfolger am in-
nigſten; eine aufgeklaͤrte witzige Nation ſpottete
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