Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.Erste Abtheilung. zu schluchzen, wandte sich dann im Holze nach al-len Orten hin, und rief so lange, bis sie heiser war, aber sie erhielt keine Antwort. Da wurde sie so betrübt, daß sie einen heftigen Schmerz im Haupte empfand, sie sank auf den Boden nieder, und lag eine Weile in einer schmerzlichen Ohnmacht. Als sie wieder zu sich erwachte, däuchte ihr, daß es ein Leichtes seyn müsse, jetzt gar zu sterben; nun sah sie nicht mehr auf die Vögel, die scher- zend um sie hüpften, denn wenn sie die Augen aufschlug, war es ihr zu Sinne, daß jede Kreatur, die sich regte und bewegte, glücklicher sey, als sie. Mit vieler Mühe stieg sie auf einen Baum, Sie ging wie wahnsinnig im Walde hin und Erſte Abtheilung. zu ſchluchzen, wandte ſich dann im Holze nach al-len Orten hin, und rief ſo lange, bis ſie heiſer war, aber ſie erhielt keine Antwort. Da wurde ſie ſo betruͤbt, daß ſie einen heftigen Schmerz im Haupte empfand, ſie ſank auf den Boden nieder, und lag eine Weile in einer ſchmerzlichen Ohnmacht. Als ſie wieder zu ſich erwachte, daͤuchte ihr, daß es ein Leichtes ſeyn muͤſſe, jetzt gar zu ſterben; nun ſah ſie nicht mehr auf die Voͤgel, die ſcher- zend um ſie huͤpften, denn wenn ſie die Augen aufſchlug, war es ihr zu Sinne, daß jede Kreatur, die ſich regte und bewegte, gluͤcklicher ſey, als ſie. Mit vieler Muͤhe ſtieg ſie auf einen Baum, Sie ging wie wahnſinnig im Walde hin und <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0381" n="370"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Erſte Abtheilung</hi>.</fw><lb/> zu ſchluchzen, wandte ſich dann im Holze nach al-<lb/> len Orten hin, und rief ſo lange, bis ſie heiſer<lb/> war, aber ſie erhielt keine Antwort. Da wurde<lb/> ſie ſo betruͤbt, daß ſie einen heftigen Schmerz im<lb/> Haupte empfand, ſie ſank auf den Boden nieder,<lb/> und lag eine Weile in einer ſchmerzlichen Ohnmacht.<lb/> Als ſie wieder zu ſich erwachte, daͤuchte ihr, daß<lb/> es ein Leichtes ſeyn muͤſſe, jetzt gar zu ſterben;<lb/> nun ſah ſie nicht mehr auf die Voͤgel, die ſcher-<lb/> zend um ſie huͤpften, denn wenn ſie die Augen<lb/> aufſchlug, war es ihr zu Sinne, daß jede Kreatur,<lb/> die ſich regte und bewegte, gluͤcklicher ſey, als ſie.</p><lb/> <p>Mit vieler Muͤhe ſtieg ſie auf einen Baum,<lb/> um ſich in der Gegend umzuſehn, ob ſie nichts<lb/> entdecken koͤnne, aber ſie ſah nichts als Waͤlder<lb/> auf der einen Seite, keine Wohnung, kein Dorf,<lb/> ſo weit ihr Auge reichte; auf der andern Seite<lb/> das wuͤſte unabſehliche Meer. Troſtlos ſtieg ſie<lb/> wieder herab, und weinte und klagte von neuem:<lb/> O ungetreuer Ritter, rief ſie aus, warum haſt du<lb/> deine unſchuldige Geliebte verlaſſen? Haſt du mich<lb/> darum meinen Eltern geraubt, damit ich hier in<lb/> der Wuͤſtenei verſchmachten ſoll? Was hab ich dir<lb/> gethan? Hab ich dich zu ſehr geliebt? Biſt du<lb/> mein uͤberdruͤßig, weil ich dir mein ſchwaches Herz<lb/> zu fruͤh zu erkennen gab? O, ſo biſt du der Elen-<lb/> deſte unter den Menſchen!</p><lb/> <p>Sie ging wie wahnſinnig im Walde hin und<lb/> her; da traf ſie die Roſſe, die noch ſo angebunden<lb/> ſtanden, wie Peter ſie feſt gemacht hatte. O ver-<lb/> gieb mir, mein Geliebter! rief ſie aus, jetzt werde<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [370/0381]
Erſte Abtheilung.
zu ſchluchzen, wandte ſich dann im Holze nach al-
len Orten hin, und rief ſo lange, bis ſie heiſer
war, aber ſie erhielt keine Antwort. Da wurde
ſie ſo betruͤbt, daß ſie einen heftigen Schmerz im
Haupte empfand, ſie ſank auf den Boden nieder,
und lag eine Weile in einer ſchmerzlichen Ohnmacht.
Als ſie wieder zu ſich erwachte, daͤuchte ihr, daß
es ein Leichtes ſeyn muͤſſe, jetzt gar zu ſterben;
nun ſah ſie nicht mehr auf die Voͤgel, die ſcher-
zend um ſie huͤpften, denn wenn ſie die Augen
aufſchlug, war es ihr zu Sinne, daß jede Kreatur,
die ſich regte und bewegte, gluͤcklicher ſey, als ſie.
Mit vieler Muͤhe ſtieg ſie auf einen Baum,
um ſich in der Gegend umzuſehn, ob ſie nichts
entdecken koͤnne, aber ſie ſah nichts als Waͤlder
auf der einen Seite, keine Wohnung, kein Dorf,
ſo weit ihr Auge reichte; auf der andern Seite
das wuͤſte unabſehliche Meer. Troſtlos ſtieg ſie
wieder herab, und weinte und klagte von neuem:
O ungetreuer Ritter, rief ſie aus, warum haſt du
deine unſchuldige Geliebte verlaſſen? Haſt du mich
darum meinen Eltern geraubt, damit ich hier in
der Wuͤſtenei verſchmachten ſoll? Was hab ich dir
gethan? Hab ich dich zu ſehr geliebt? Biſt du
mein uͤberdruͤßig, weil ich dir mein ſchwaches Herz
zu fruͤh zu erkennen gab? O, ſo biſt du der Elen-
deſte unter den Menſchen!
Sie ging wie wahnſinnig im Walde hin und
her; da traf ſie die Roſſe, die noch ſo angebunden
ſtanden, wie Peter ſie feſt gemacht hatte. O ver-
gieb mir, mein Geliebter! rief ſie aus, jetzt werde
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