machen, und sich dadurch die fremde Erfindung anzueignen.
Sie mögen nicht Unrecht haben, antwortete Friedrich; wenn aber eine alte Erzählung einen so herzlichen Mittelpunkt hat, der der Geschichte einen großen und rührenden Charakter giebt, so ist es doch wohl nur die Verwöhnung einer neu- ern Zeit und ihre Beschränktheit, diese Schön- heit ganz zu verkennen, und sie mit einer will- kührlichen Abänderung verbessern zu wollen, durch welche das Ganze eben so wohl Mittelpunkt als Zweck verliert.
Ich bin Ihrer Meinung, sagte Clara. Giebt es etwas Rührenderes (und zwar nicht von der Art des Rührenden, welches man gewöhnlich so nennt), als daß sie sich in treuer Liebe und Hof- nungslosigkeit dem Dienst der Kranken fromm und andächtig widmet? Lange hat sie dem selbst- gewählten Berufe mit edler Treue vorgestanden, da kommt er selbst, von Liebe und Sehnsucht er- mattet, an der Trennung sterbend, in ihre Pflege (nicht, wie hier erzählt wird, halb ungetreu); sie kennt ihn nicht, sie nimmt ihn auf wie jeden Kranken; da fängt er an zu genesen, er faßt ein Zutrauen zu der guten, alt scheinenden Wärte- rin und erzählt ihr seine Geschichte; sie, vor Schrecken und Wonne wie vernichtet, geht in die Kammer, löst die rollenden goldgelben Lok- ken auf, wirft das Gewand der Büßenden ab, und tritt so im Jugendglanz dem wieder vor
Erſte Abtheilung.
machen, und ſich dadurch die fremde Erfindung anzueignen.
Sie moͤgen nicht Unrecht haben, antwortete Friedrich; wenn aber eine alte Erzaͤhlung einen ſo herzlichen Mittelpunkt hat, der der Geſchichte einen großen und ruͤhrenden Charakter giebt, ſo iſt es doch wohl nur die Verwoͤhnung einer neu- ern Zeit und ihre Beſchraͤnktheit, dieſe Schoͤn- heit ganz zu verkennen, und ſie mit einer will- kuͤhrlichen Abaͤnderung verbeſſern zu wollen, durch welche das Ganze eben ſo wohl Mittelpunkt als Zweck verliert.
Ich bin Ihrer Meinung, ſagte Clara. Giebt es etwas Ruͤhrenderes (und zwar nicht von der Art des Ruͤhrenden, welches man gewoͤhnlich ſo nennt), als daß ſie ſich in treuer Liebe und Hof- nungsloſigkeit dem Dienſt der Kranken fromm und andaͤchtig widmet? Lange hat ſie dem ſelbſt- gewaͤhlten Berufe mit edler Treue vorgeſtanden, da kommt er ſelbſt, von Liebe und Sehnſucht er- mattet, an der Trennung ſterbend, in ihre Pflege (nicht, wie hier erzaͤhlt wird, halb ungetreu); ſie kennt ihn nicht, ſie nimmt ihn auf wie jeden Kranken; da faͤngt er an zu geneſen, er faßt ein Zutrauen zu der guten, alt ſcheinenden Waͤrte- rin und erzaͤhlt ihr ſeine Geſchichte; ſie, vor Schrecken und Wonne wie vernichtet, geht in die Kammer, loͤſt die rollenden goldgelben Lok- ken auf, wirft das Gewand der Buͤßenden ab, und tritt ſo im Jugendglanz dem wieder vor
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Erſte Abtheilung.
machen, und ſich dadurch die fremde Erfindung
anzueignen.
Sie moͤgen nicht Unrecht haben, antwortete
Friedrich; wenn aber eine alte Erzaͤhlung einen
ſo herzlichen Mittelpunkt hat, der der Geſchichte
einen großen und ruͤhrenden Charakter giebt, ſo
iſt es doch wohl nur die Verwoͤhnung einer neu-
ern Zeit und ihre Beſchraͤnktheit, dieſe Schoͤn-
heit ganz zu verkennen, und ſie mit einer will-
kuͤhrlichen Abaͤnderung verbeſſern zu wollen, durch
welche das Ganze eben ſo wohl Mittelpunkt als
Zweck verliert.
Ich bin Ihrer Meinung, ſagte Clara. Giebt
es etwas Ruͤhrenderes (und zwar nicht von der
Art des Ruͤhrenden, welches man gewoͤhnlich ſo
nennt), als daß ſie ſich in treuer Liebe und Hof-
nungsloſigkeit dem Dienſt der Kranken fromm
und andaͤchtig widmet? Lange hat ſie dem ſelbſt-
gewaͤhlten Berufe mit edler Treue vorgeſtanden,
da kommt er ſelbſt, von Liebe und Sehnſucht er-
mattet, an der Trennung ſterbend, in ihre Pflege
(nicht, wie hier erzaͤhlt wird, halb ungetreu); ſie
kennt ihn nicht, ſie nimmt ihn auf wie jeden
Kranken; da faͤngt er an zu geneſen, er faßt ein
Zutrauen zu der guten, alt ſcheinenden Waͤrte-
rin und erzaͤhlt ihr ſeine Geſchichte; ſie, vor
Schrecken und Wonne wie vernichtet, geht in
die Kammer, loͤſt die rollenden goldgelben Lok-
ken auf, wirft das Gewand der Buͤßenden ab,
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Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 394. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/405>, abgerufen am 22.11.2024.
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