Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.

Bild:
<< vorherige Seite

Erste Abtheilung.
Putz verdrängt und hinunter wirft; nun kann er
sich geängstigt und aufwachsend nicht mehr helfen,
er muß im Herbst zur Frucht werden. Wohl ist
ein Apfel auch lieb und erfreulich, aber doch nichts
gegen die Frühlingsblüte: so geht es mit uns
Menschen auch; ich kann mich nicht darauf freuen,
ein großes Mädchen zu werden. Ach, könnt' ich
euch doch nur einmal besuchen!

Seit der König bei uns wohnt, sagte Zerina,
ist es ganz unmöglich, aber ich komme ja so oft
zu dir, Liebchen, und keiner sieht mich, keiner weiß
es, weder hier noch dort; ungesehn geh ich durch
die Luft, oder fliege als Vogel herüber; o wir wol-
len noch recht viel beisammen seyn, so lange du klein
bist. Was kann ich dir nur zu Gefallen thun?

Recht lieb sollst du mich haben, sagte Elfriede,
so lieb, wie ich dich in meinem Herzen trage; doch
laß uns auch einmal wieder eine Rose machen.

Zerina nahm das bekannte Schächtelchen aus
dem Busen, warf zwei Körner hin, und plötzlich
stand ein grünender Busch mit zweien hochrothen
Rosen vor ihnen, welche sich zu einander neigten,
und sich zu küssen schienen. Die Kinder brachen
die Rosen lächelnd ab, und das Gebüsch war wie-
der verschwunden. O müßte es nur nicht wieder
so schnell sterben, sagte Elfriede, das rothe Kind,
das Wunder der Erde. Gieb! sagte die kleine Elfe,
hauchte dreimal die aufknospende Rose an, und küßte
sie dreimal; nun, sprach sie, indem sie die Blume
zurück gab, bleibt sie frisch und blühend bis zum
Winter. Ich will sie wie ein Bild von dir auf-

Erſte Abtheilung.
Putz verdraͤngt und hinunter wirft; nun kann er
ſich geaͤngſtigt und aufwachſend nicht mehr helfen,
er muß im Herbſt zur Frucht werden. Wohl iſt
ein Apfel auch lieb und erfreulich, aber doch nichts
gegen die Fruͤhlingsbluͤte: ſo geht es mit uns
Menſchen auch; ich kann mich nicht darauf freuen,
ein großes Maͤdchen zu werden. Ach, koͤnnt' ich
euch doch nur einmal beſuchen!

Seit der Koͤnig bei uns wohnt, ſagte Zerina,
iſt es ganz unmoͤglich, aber ich komme ja ſo oft
zu dir, Liebchen, und keiner ſieht mich, keiner weiß
es, weder hier noch dort; ungeſehn geh ich durch
die Luft, oder fliege als Vogel heruͤber; o wir wol-
len noch recht viel beiſammen ſeyn, ſo lange du klein
biſt. Was kann ich dir nur zu Gefallen thun?

Recht lieb ſollſt du mich haben, ſagte Elfriede,
ſo lieb, wie ich dich in meinem Herzen trage; doch
laß uns auch einmal wieder eine Roſe machen.

Zerina nahm das bekannte Schaͤchtelchen aus
dem Buſen, warf zwei Koͤrner hin, und ploͤtzlich
ſtand ein gruͤnender Buſch mit zweien hochrothen
Roſen vor ihnen, welche ſich zu einander neigten,
und ſich zu kuͤſſen ſchienen. Die Kinder brachen
die Roſen laͤchelnd ab, und das Gebuͤſch war wie-
der verſchwunden. O muͤßte es nur nicht wieder
ſo ſchnell ſterben, ſagte Elfriede, das rothe Kind,
das Wunder der Erde. Gieb! ſagte die kleine Elfe,
hauchte dreimal die aufknospende Roſe an, und kuͤßte
ſie dreimal; nun, ſprach ſie, indem ſie die Blume
zuruͤck gab, bleibt ſie friſch und bluͤhend bis zum
Winter. Ich will ſie wie ein Bild von dir auf-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0435" n="424"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Er&#x017F;te Abtheilung</hi>.</fw><lb/>
Putz verdra&#x0364;ngt und hinunter wirft; nun kann er<lb/>
&#x017F;ich gea&#x0364;ng&#x017F;tigt und aufwach&#x017F;end nicht mehr helfen,<lb/>
er muß im Herb&#x017F;t zur Frucht werden. Wohl i&#x017F;t<lb/>
ein Apfel auch lieb und erfreulich, aber doch nichts<lb/>
gegen die Fru&#x0364;hlingsblu&#x0364;te: &#x017F;o geht es mit uns<lb/>
Men&#x017F;chen auch; ich kann mich nicht darauf freuen,<lb/>
ein großes Ma&#x0364;dchen zu werden. Ach, ko&#x0364;nnt' ich<lb/>
euch doch nur einmal be&#x017F;uchen!</p><lb/>
          <p>Seit der Ko&#x0364;nig bei uns wohnt, &#x017F;agte Zerina,<lb/>
i&#x017F;t es ganz unmo&#x0364;glich, aber ich komme ja &#x017F;o oft<lb/>
zu dir, Liebchen, und keiner &#x017F;ieht mich, keiner weiß<lb/>
es, weder hier noch dort; unge&#x017F;ehn geh ich durch<lb/>
die Luft, oder fliege als Vogel heru&#x0364;ber; o wir wol-<lb/>
len noch recht viel bei&#x017F;ammen &#x017F;eyn, &#x017F;o lange du klein<lb/>
bi&#x017F;t. Was kann ich dir nur zu Gefallen thun?</p><lb/>
          <p>Recht lieb &#x017F;oll&#x017F;t du mich haben, &#x017F;agte Elfriede,<lb/>
&#x017F;o lieb, wie ich dich in meinem Herzen trage; doch<lb/>
laß uns auch einmal wieder eine Ro&#x017F;e machen.</p><lb/>
          <p>Zerina nahm das bekannte Scha&#x0364;chtelchen aus<lb/>
dem Bu&#x017F;en, warf zwei Ko&#x0364;rner hin, und plo&#x0364;tzlich<lb/>
&#x017F;tand ein gru&#x0364;nender Bu&#x017F;ch mit zweien hochrothen<lb/>
Ro&#x017F;en vor ihnen, welche &#x017F;ich zu einander neigten,<lb/>
und &#x017F;ich zu ku&#x0364;&#x017F;&#x017F;en &#x017F;chienen. Die Kinder brachen<lb/>
die Ro&#x017F;en la&#x0364;chelnd ab, und das Gebu&#x0364;&#x017F;ch war wie-<lb/>
der ver&#x017F;chwunden. O mu&#x0364;ßte es nur nicht wieder<lb/>
&#x017F;o &#x017F;chnell &#x017F;terben, &#x017F;agte Elfriede, das rothe Kind,<lb/>
das Wunder der Erde. Gieb! &#x017F;agte die kleine Elfe,<lb/>
hauchte dreimal die aufknospende Ro&#x017F;e an, und ku&#x0364;ßte<lb/>
&#x017F;ie dreimal; nun, &#x017F;prach &#x017F;ie, indem &#x017F;ie die Blume<lb/>
zuru&#x0364;ck gab, bleibt &#x017F;ie fri&#x017F;ch und blu&#x0364;hend bis zum<lb/>
Winter. Ich will &#x017F;ie wie ein Bild von dir auf-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[424/0435] Erſte Abtheilung. Putz verdraͤngt und hinunter wirft; nun kann er ſich geaͤngſtigt und aufwachſend nicht mehr helfen, er muß im Herbſt zur Frucht werden. Wohl iſt ein Apfel auch lieb und erfreulich, aber doch nichts gegen die Fruͤhlingsbluͤte: ſo geht es mit uns Menſchen auch; ich kann mich nicht darauf freuen, ein großes Maͤdchen zu werden. Ach, koͤnnt' ich euch doch nur einmal beſuchen! Seit der Koͤnig bei uns wohnt, ſagte Zerina, iſt es ganz unmoͤglich, aber ich komme ja ſo oft zu dir, Liebchen, und keiner ſieht mich, keiner weiß es, weder hier noch dort; ungeſehn geh ich durch die Luft, oder fliege als Vogel heruͤber; o wir wol- len noch recht viel beiſammen ſeyn, ſo lange du klein biſt. Was kann ich dir nur zu Gefallen thun? Recht lieb ſollſt du mich haben, ſagte Elfriede, ſo lieb, wie ich dich in meinem Herzen trage; doch laß uns auch einmal wieder eine Roſe machen. Zerina nahm das bekannte Schaͤchtelchen aus dem Buſen, warf zwei Koͤrner hin, und ploͤtzlich ſtand ein gruͤnender Buſch mit zweien hochrothen Roſen vor ihnen, welche ſich zu einander neigten, und ſich zu kuͤſſen ſchienen. Die Kinder brachen die Roſen laͤchelnd ab, und das Gebuͤſch war wie- der verſchwunden. O muͤßte es nur nicht wieder ſo ſchnell ſterben, ſagte Elfriede, das rothe Kind, das Wunder der Erde. Gieb! ſagte die kleine Elfe, hauchte dreimal die aufknospende Roſe an, und kuͤßte ſie dreimal; nun, ſprach ſie, indem ſie die Blume zuruͤck gab, bleibt ſie friſch und bluͤhend bis zum Winter. Ich will ſie wie ein Bild von dir auf-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/435
Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 424. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/435>, abgerufen am 22.11.2024.