Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.Der Pokal. berechtigt war. Da fühlte er seine Armuth, dochwenn er an seine vorige Lebensweise dachte, dünkte er sich überschwänglich reich, denn sein Daseyn war geheiligt, sein Herz schwebte immerdar in der schönsten Rührung; jetzt war ihm die Natur be- freundet und ihre Schönheit seinen Sinnen offen- bar, er fühlte sich der Andacht und Religion nicht mehr fremd, und betrat dieselbe Schwelle, das geheimnißvolle Dunkel des Tempels jetzt mit ganz andern Gefühlen, als in jenen Tagen des Leicht- sinns. Er zog sich von seinen Bekanntschaften zu- rück und lebte nur der Liebe. Wenn er durch ihre Straße ging und sie nur am Fenster sah, war er für diesen Tag glücklich; er hatte sie in der Däm- merung des Abends oftmals gesprochen, ihr Gar- ten stieß an den eines Freundes, der aber sein Ge- heimniß nicht wußte. So war ein Jahr vorüber gegangen. Alle diese Scenen seines neuen Lebens zogen I. [ 28 ]
Der Pokal. berechtigt war. Da fuͤhlte er ſeine Armuth, dochwenn er an ſeine vorige Lebensweiſe dachte, duͤnkte er ſich uͤberſchwaͤnglich reich, denn ſein Daſeyn war geheiligt, ſein Herz ſchwebte immerdar in der ſchoͤnſten Ruͤhrung; jetzt war ihm die Natur be- freundet und ihre Schoͤnheit ſeinen Sinnen offen- bar, er fuͤhlte ſich der Andacht und Religion nicht mehr fremd, und betrat dieſelbe Schwelle, das geheimnißvolle Dunkel des Tempels jetzt mit ganz andern Gefuͤhlen, als in jenen Tagen des Leicht- ſinns. Er zog ſich von ſeinen Bekanntſchaften zu- ruͤck und lebte nur der Liebe. Wenn er durch ihre Straße ging und ſie nur am Fenſter ſah, war er fuͤr dieſen Tag gluͤcklich; er hatte ſie in der Daͤm- merung des Abends oftmals geſprochen, ihr Gar- ten ſtieß an den eines Freundes, der aber ſein Ge- heimniß nicht wußte. So war ein Jahr voruͤber gegangen. Alle dieſe Scenen ſeines neuen Lebens zogen I. [ 28 ]
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Der Pokal.
berechtigt war. Da fuͤhlte er ſeine Armuth, doch
wenn er an ſeine vorige Lebensweiſe dachte, duͤnkte
er ſich uͤberſchwaͤnglich reich, denn ſein Daſeyn
war geheiligt, ſein Herz ſchwebte immerdar in der
ſchoͤnſten Ruͤhrung; jetzt war ihm die Natur be-
freundet und ihre Schoͤnheit ſeinen Sinnen offen-
bar, er fuͤhlte ſich der Andacht und Religion nicht
mehr fremd, und betrat dieſelbe Schwelle, das
geheimnißvolle Dunkel des Tempels jetzt mit ganz
andern Gefuͤhlen, als in jenen Tagen des Leicht-
ſinns. Er zog ſich von ſeinen Bekanntſchaften zu-
ruͤck und lebte nur der Liebe. Wenn er durch ihre
Straße ging und ſie nur am Fenſter ſah, war er
fuͤr dieſen Tag gluͤcklich; er hatte ſie in der Daͤm-
merung des Abends oftmals geſprochen, ihr Gar-
ten ſtieß an den eines Freundes, der aber ſein Ge-
heimniß nicht wußte. So war ein Jahr voruͤber
gegangen.
Alle dieſe Scenen ſeines neuen Lebens zogen
wieder durch ſein Gedaͤchtniß. Er erhob ſeinen
Blick, da ſchwebte die edle Geſtalt ſchon uͤber den
Platz, ſie leuchtete ihm wie eine Sonne aus der
verworrenen Menge hervor. Ein lieblicher Geſang
ertoͤnte in ſeinem ſehnſuͤchtigen Herzen, und er
trat, wie ſie ſich annaͤherte, in die Kirche zuruͤck.
Er hielt ihr das geweihte Waſſer entgegen, ihre
weißen Finger zitterten, als ſie die ſeinigen beruͤhrte,
ſie neigte ſich holdſelig. Er folgte ihr nach, und
kniete in ihrer Naͤhe. Sein ganzes Herz zer-
ſchmolz in Wehmuth und Liebe, es duͤnkte ihm,
als wenn aus den Wunden der Sehnſucht ſein
I. [ 28 ]
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