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Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.

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Der Pokal.
stehn seine magischen Bücher, dies ist das Zimmer,
in welchem er mir jenes holdselige Orakel erwecken
wollte; verblichen ist die Röthe des Teppichs, die
goldene Einfassung ermattet, aber wundersam leb-
haft ist alles, alles aus jenen Stunden in meinem
Gemüth; darum schauerte mir, als ich hieher ging,
auf jenen langen verwickelten Gängen, welche mich
Leopold führte; o Himmel, hier auf diesem Tische
stieg das Bildniß quellend hervor, und wuchs auf
wie von der Röthe des Goldes getränkt und er-
frischt; dasselbe Bild lachte hier mich an, welches
mich heut Abend dorten im Saale fast wahnsinnig
gemacht hat, in jenem Saale, in welchem ich so
oft mit Albert in vertrauten Gesprächen auf und
nieder wandelte.

Er entkleidete sich, schlief aber nur wenig. Am
Morgen stand er früh wieder auf, und betrachtete
das Zimmer von neuem; er eröffnete das Fenster,
und sah dieselben Gärten und Gebäude vor sich,
wie damals, nur waren indeß viele neue Häuser
hinzu gebaut worden. Vierzig Jahre sind seitdem
verschwunden, seufzte er, und jeder Tag von da-
mals enthielt längeres Leben als der ganze übrige
Zeitraum.

Er ward wieder zur Gesellschaft gerufen. Der
Morgen verging unter mannigfaltigen Gesprächen,
endlich trat die Braut in ihrem Schmucke herein.
So wie der Alte ihrer ansichtig ward, gerieth er
wie außer sich, so daß keinem in der Gesellschaft
seine Bewegung entging. Man begab sich zur
Kirche und die Trauung ward vollzogen. Als sich

I. [ 29 ]

Der Pokal.
ſtehn ſeine magiſchen Buͤcher, dies iſt das Zimmer,
in welchem er mir jenes holdſelige Orakel erwecken
wollte; verblichen iſt die Roͤthe des Teppichs, die
goldene Einfaſſung ermattet, aber wunderſam leb-
haft iſt alles, alles aus jenen Stunden in meinem
Gemuͤth; darum ſchauerte mir, als ich hieher ging,
auf jenen langen verwickelten Gaͤngen, welche mich
Leopold fuͤhrte; o Himmel, hier auf dieſem Tiſche
ſtieg das Bildniß quellend hervor, und wuchs auf
wie von der Roͤthe des Goldes getraͤnkt und er-
friſcht; dasſelbe Bild lachte hier mich an, welches
mich heut Abend dorten im Saale faſt wahnſinnig
gemacht hat, in jenem Saale, in welchem ich ſo
oft mit Albert in vertrauten Geſpraͤchen auf und
nieder wandelte.

Er entkleidete ſich, ſchlief aber nur wenig. Am
Morgen ſtand er fruͤh wieder auf, und betrachtete
das Zimmer von neuem; er eroͤffnete das Fenſter,
und ſah dieſelben Gaͤrten und Gebaͤude vor ſich,
wie damals, nur waren indeß viele neue Haͤuſer
hinzu gebaut worden. Vierzig Jahre ſind ſeitdem
verſchwunden, ſeufzte er, und jeder Tag von da-
mals enthielt laͤngeres Leben als der ganze uͤbrige
Zeitraum.

Er ward wieder zur Geſellſchaft gerufen. Der
Morgen verging unter mannigfaltigen Geſpraͤchen,
endlich trat die Braut in ihrem Schmucke herein.
So wie der Alte ihrer anſichtig ward, gerieth er
wie außer ſich, ſo daß keinem in der Geſellſchaft
ſeine Bewegung entging. Man begab ſich zur
Kirche und die Trauung ward vollzogen. Als ſich

I. [ 29 ]
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[449/0460] Der Pokal. ſtehn ſeine magiſchen Buͤcher, dies iſt das Zimmer, in welchem er mir jenes holdſelige Orakel erwecken wollte; verblichen iſt die Roͤthe des Teppichs, die goldene Einfaſſung ermattet, aber wunderſam leb- haft iſt alles, alles aus jenen Stunden in meinem Gemuͤth; darum ſchauerte mir, als ich hieher ging, auf jenen langen verwickelten Gaͤngen, welche mich Leopold fuͤhrte; o Himmel, hier auf dieſem Tiſche ſtieg das Bildniß quellend hervor, und wuchs auf wie von der Roͤthe des Goldes getraͤnkt und er- friſcht; dasſelbe Bild lachte hier mich an, welches mich heut Abend dorten im Saale faſt wahnſinnig gemacht hat, in jenem Saale, in welchem ich ſo oft mit Albert in vertrauten Geſpraͤchen auf und nieder wandelte. Er entkleidete ſich, ſchlief aber nur wenig. Am Morgen ſtand er fruͤh wieder auf, und betrachtete das Zimmer von neuem; er eroͤffnete das Fenſter, und ſah dieſelben Gaͤrten und Gebaͤude vor ſich, wie damals, nur waren indeß viele neue Haͤuſer hinzu gebaut worden. Vierzig Jahre ſind ſeitdem verſchwunden, ſeufzte er, und jeder Tag von da- mals enthielt laͤngeres Leben als der ganze uͤbrige Zeitraum. Er ward wieder zur Geſellſchaft gerufen. Der Morgen verging unter mannigfaltigen Geſpraͤchen, endlich trat die Braut in ihrem Schmucke herein. So wie der Alte ihrer anſichtig ward, gerieth er wie außer ſich, ſo daß keinem in der Geſellſchaft ſeine Bewegung entging. Man begab ſich zur Kirche und die Trauung ward vollzogen. Als ſich I. [ 29 ]

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 449. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/460>, abgerufen am 22.11.2024.